Es ist seltsam, dass alle Erinnerungen, die kommen, zwei Eigenschaften haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Stärkste an ihnen, und selbst dann, wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit waren, wirken sie so. Sie sind lautlose Erscheinungen, die zu mir sprechen mit Blicken und Gebärden, wortlos und schweigend, und ihr Schweigen ist das Erschütternde, das mich zwingt, meinen Ärmel anzufassen und mein Gewehr, um mich nicht vergehen zu lassen in dieser Auflösung und Lockung, in der mein Körper sich ausbreiten und sanft zerfließen möchte zu den stillen Mächten hinter den Dingen.
Sie sind so still, weil das für uns so unbegreiflich ist. An der Front gibt es keine Stille, und der Bann der Front reicht so weit, dass wir nie außerhalb von ihr sind. Auch in den zurückgelegenen Depots und Ruhequartieren bleibt das Summen und das gedämpfte Poltern des Feuers stets in unseren Ohren. Wir sind nie so weit fort, dass wir es nicht mehr hören. In diesen Tagen aber war es unerträglich.
Die Stille ist die Ursache dafür, dass die Bilder des Früher nicht so sehr Wünsche erwecken als Trauer eine ungeheure, fassungslose Schwermut. Sie waren aber sie kehren nicht wieder. Sie sind vorbei, sie sind eine andere Welt, die für uns vorüber ist. Auf den Kasernenhöfen riefen sie ein rebellisches, wildes Begehren hervor, da waren sie noch mit uns verbunden, wir gehörten zu ihnen und sie zu uns, wenn wir auch getrennt waren. Sie stiegen auf bei den Soldatenliedern, die wir sangen, wenn wir zwischen Morgenrot und schwarzen Waldsilhouetten zum Exerzieren nach der Heide marschierten, sie waren eine heftige Erinnerung, die in uns war und aus uns kam.
Hier in den Gräben aber ist sie uns verlorengegangen. Sie steigt nicht mehr aus uns auf; wir sind tot, und sie steht fern am Horizont, sie ist eine Erscheinung, ein rätselhafter Widerschein, der uns heimsucht, den wir fürchten und ohne Hoffnung lieben. Sie ist stark, und unser Begehren* ist stark aber sie ist unerreichbar, und wir wissen es. Sie ist ebenso vergeblich wie die Erwartung, General zu werden.
Und selbst wenn man sie uns wiedergäbe, diese Landschaft unserer Jugend, wir würden wenig mehr mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und geheimen Kräfte, die von ihr zu uns gingen, können nicht wiedererstehen. Wir würden in ihr sein und in ihr umgehen; wir würden uns erinnern und sie lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber es wäre das gleiche, wie wenn wir nachdenklich werden vor der Fotografie eines toten Kameraden; es sind seine Züge, es ist sein Gesicht, und die Tage, die wir mit ihm zusammen waren, gewinnen ein trügerisches Leben in unserer Erinnerung; aber er ist es nicht selbst.
Wir würden nicht mehr verbunden sein mit ihr, wie wir es waren. Nicht die Erkenntnis ihrer Schönheit und ihrer Stimmung hat uns ja angezogen, sondern das Gemeinsame, dieses Gleichfühlen einer Brüderschaft mit den Dingen und Vorfällen unseres Seins, die uns abgrenzte und uns die Welt unserer Eltern immer etwas unverständlich machte; denn wir waren irgendwie immer zärtlich an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mündete uns einmal immer in den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das Vorrecht unserer Jugend wir sahen noch keine Bezirke, und nirgendwo gaben wir ein Ende zu; wir hatten die Erwartung des Blutes, die uns eins machte mit dem Verlauf unserer Tage.
Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie Reisende. Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie Händler und Notwendigkeiten wie Schlächter. Wir sind nicht mehr unbekümmert wir sind fürchterlich gleichgültig. Wir würden da sein; aber würden wir leben?
Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich ich glaube, wir sind verloren.
* * *Meine Hände werden kalt, und meine Haut schauert*; dabei ist es eine warme Nacht. Nur der Nebel ist kühl, dieser unheimliche Nebel, der die Toten vor uns beschleicht und ihnen das letzte, verkrochene Leben aussaugt. Morgen werden sie bleich und grün sein und ihr Blut gestockt und schwarz.
Immer noch steigen die Leuchtschirme empor und werfen ihr erbarmungsloses Licht über die versteinerte Landschaft, die voll Krater und Lichtkälte ist wie ein Mond. Das Blut unter meiner Haut bringt Furcht und Unruhe herauf in meine Gedanken. Sie werden schwach und zittern, sie wollen Wärme und Leben. Sie können es nicht aushaken ohne Trost und Täuschung, sie verwirren sich vor dem nackten Bilde der Verzweiflung.
Ich höre das Klappern von Kochgeschirren und habe sofort das heftige Verlangen nach warmem Essen, es wird mir gut tun und mich beruhigen. Mit Mühe zwinge ich mich, zu warten, bis ich abgelöst werde.
Dann gehe ich in den Unterstand und finde einen Becher mit Graupen* vor. Sie sind fett gekocht und schmecken gut, ich esse sie langsam. Aber ich bleibe still, obschon die andern besser gelaunt sind, weil das Feuer eingeschlafen ist.
* * *Die Tage gehen hin, und jede Stunde ist unbegreiflich und selbstverständlich. Die Angriffe wechseln mit Gegenangriffen, und langsam häufen sich auf dem Trichterfeld zwischen den Gräbern die Toten. Die Verwundeten, die nicht sehr weit weg liegen, können wir meistens holen. Manche aber müssen lange liegen, und wir hören sie sterben.
Einen suchen wir vergeblich zwei Tage hindurch. Er muss auf dem Bauche liegen und sich nicht mehr umdrehen können. Anders ist es nicht zu erklären, dass wir ihn nicht finden; denn nur wenn man mit dem Munde dicht auf dem Boden schreit, ist die Richtung so schwer festzustellen.
Er wird einen bösen Schuss haben, eine dieser schlimmen Verletzungen, die nicht so stark sind, dass sie den Körper rasch derart schwächen, dass man halb betäubt verdämmert, und auch nicht so leicht, dass man die Schmerzen mit der Aussicht ertragen kann, wieder heil zu werden. Kat meint, er hätte entweder eine Beckenzertrümmerung oder einen Wirbelsäulenschuss*. Die Brust sei nicht verletzt, sonst besäße er nicht so viel Kraft zum Schreien. Man müsste ihn bei einer anderen Verletzung sich auch bewegen sehen.
Er wird allmählich heiser. Die Stimme ist so unglücklich im Klang, dass sie überall herkommen könnte. In der ersten Nacht sind dreimal Leute von uns draußen. Aber wenn sie glauben, die Richtung zu haben, und schon hinkriechen, ist die Stimme beim nächstenmal, wenn sie horchen, wieder ganz anderswo.
Bis in die Dämmerung hinein suchen wir vergeblich. Tagsüber wird das Gelände mit Gläsern durchforscht; nichts ist zu entdecken. Am zweiten Tag wird der Mann leiser; man merkt, dass die Lippen und der Mund vertrocknet sind.
Unser Kompanieführer hat dem, der ihn findet, Vorzugsurlaub und drei Tage Zusatz versprochen. Das ist ein mächtiger Anreiz, aber wir würden auch ohne das tun, was möglich ist; denn das Rufen ist furchtbar. Kat und Kropp gehen sogar nachmittags noch einmal vor. Albert wird das Ohrläppchen* dabei abgeschossen. Es ist umsonst, sie haben ihn nicht bei sich.
Dabei ist deutlich zu verstehen, was er ruft. Zuerst hat er immer nur um Hilfe geschrien in der zweiten Nacht muss er etwas Fieber haben, er spricht mit seiner Frau und seinen Kindern, wir können oft den Namen Elise heraushören. Heute weint er nur noch. Abends erlischt die Stimme zu einem Krächzen. Aber er stöhnt noch die ganze Nacht leise. Wir hören es so genau, weil der Wind auf unsern Graben zusteht. Morgens, als wir schon glauben, er habe längst Ruhe, dringt noch einmal ein gurgelndes Röcheln herüber .
Die Tage sind heiß, und die Toten liegen unbeerdigt. Wir können sie nicht alle holen, wir wissen nicht, wohin wir mit ihnen sollen. Sie werden von den Granaten beerdigt. Manchen treiben die Bäuche auf wie Ballons. Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen.
Die Tage sind heiß, und die Toten liegen unbeerdigt. Wir können sie nicht alle holen, wir wissen nicht, wohin wir mit ihnen sollen. Sie werden von den Granaten beerdigt. Manchen treiben die Bäuche auf wie Ballons. Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen.
Der Himmel ist blau und ohne Wolken. Abends wird es schwül, und die Hitze steigt aus der Erde. Wenn der Wind zu uns herüberweht, bringt er den Blutdunst mit, der schwer und widerwärtig süßlich ist, diesen Totenbrodem der Trichter, der aus Chloroform und Verwesung gemischt scheint und uns Übelkeiten und Erbrechen verursacht.
* * *Die Nächte werden ruhig, und die Jagd auf die kupfernen Führungsringe der Granaten und die Seidenschirme der französischen Leuchtkugeln geht los. Weshalb die Führungsringe so begehrt sind, weiß eigentlich keiner recht. Die Sammler behaupten einfach, sie seien wertvoll. Es gibt Leute, die so viel davon mitschleppen, dass sie krumm und schief darunter gehen, wenn wir abrücken.
Haie gibt wenigstens einen Grund an; er will sie seiner Braut als Strumpfbänderersatz schicken. Darüber bricht bei den Friesen natürlich unbändige Heiterkeit aus; sie schlagen sich auf die Knie, das ist ein Witz, Donnerwetter, der Haie, der hat es hinter den Ohren*. Besonders Tjaden kann sich gar nicht fassen; er hat den größten der Ringe in der Hand und steckt alle Augenblicke sein Bein hindurch, um zu zeigen, wieviel da noch frei ist. »Haie, Mensch, die muss ja Beine haben, Beine« seine Gedanken klettern etwas höher , »und einen Hintern muss die dann ja haben, wie wie ein Elefant.«
Er kann sich nicht genug tun. »Mit der möchte ich mal Schinkenkloppen spielen, meine Fresse«
Haie strahlt, weil seine Braut soviel Anerkennung findet, und äußert selbstzufrieden und knapp: »Stramm isse!«
Die Seidenschirme sind praktischer zu verwerten. Drei oder vier ergeben eine Bluse, je nach der Brustweite. Kropp und ich brauchen sie als Taschentücher. Die andern schicken sie nach Hause. Wenn die Frauen sehen könnten, mit wieviel Gefahr diese dünnen Lappen oft geholt werden, würden sie einen schönen Schreck kriegen.
Kat überrascht Tjaden, wie er von einem Blindgänger in aller Seelenruhe die Ringe abzuklopfen versucht. Bei jedem andern wäre das Ding explodiert, Tjaden hat wie stets Glück.
Einen ganzen Vormittag spielen zwei Schmetterlinge vor unserm Graben. Es sind Zitronenfalter, ihre gelben Flügel haben rote Punkte. Was mag sie nur hierher verschlagen haben; weit und breit ist keine Pflanze und keine Blume. Sie ruhen sich auf den Zähnen eines Schädels aus. Ebenso sorglos wie sie sind die Vögel, die sich längst an den Krieg gewöhnt haben. Jeden Morgen steigen Lerchen zwischen der Front auf. Vor einem Jahr konnten wir sogar brütende* beobachten, die ihre Jungen auch hochbekamen.
Vor den Ratten haben wir Ruhe im Graben. Sie sind vorn wir wissen, wozu. Sie werden fett; wo wir eine sehen, knallen wir sie weg. Nachts hören wir wieder das Rollen von drüben. Tagsüber haben wir nur das normale Feuer, so dass wir die Gräben ausbessern können. Unterhaltung ist ebenfalls da, die Flieger sorgen dafür. Täglich finden zahlreiche Kämpfe ihr Publikum.
Die Kampfflieger lassen wir uns gefallen, aber die Beobachtungsflugzeuge hassen wir wie die Pest; denn sie holen uns das Artilleriefeuer herüber. Ein paar Minuten nachdem sie erscheinen, funkt es von Schrapnells und Granaten. Dadurch verlieren wir elf Leute an einem Tag, darunter fünf Sanitäter. Zwei werden so zerschmettert, dass Tjaden meint, man könne sie mit dem Löffel von der Grabenwand abkratzen und im Kochgeschirr beerdigen. Einem andern wird der Unterleib mit den Beinen abgerissen. Er lehnt tot auf der Brust im Graben, sein Gesicht ist zitronengelb, zwischen dem Vollbart glimmt noch die Zigarette. Sie glimmt, bis sie auf den Lippen verzischt.
Wir legen die Toten vorläufig in einen großen Trichter. Es sind bis jetzt drei Lagen übereinander.
* * *Plötzlich beginnt das Feuer nochmals zu trommeln. Bald sitzen wir wieder in der gespannten Starre des untätigen Wartens.
Angriff, Gegenangriff, Stoß, Gegenstoß das sind Worte, aber was umschließen sie! Wir verlieren viele Leute, am meisten Rekruten. Auf unserem Abschnitt wird wieder Ersatz eingeschoben. Es ist eines der neuen Regimenter, fast lauter junge Leute der letzten ausgehobenen Jahrgänge. Sie haben kaum eine Ausbildung, nur theoretisch haben sie etwas üben können, ehe sie ins Feld rückten. Was eine Handgranate ist, wissen sie zwar, aber von Deckung haben sie wenig Ahnung, vor allen Dingen haben sie keinen Blick dafür. Eine Bodenwelle muss schon einen halben Meter hoch sein, ehe sie von ihnen gesehen wird.
Obschon wir notwendig Verstärkung brauchen, haben wir fast mehr Arbeit mit den Rekruten, als dass sie uns nützen. Sie sind hilflos in diesem schweren Angriffsgebiet und fallen wie die Fliegen. Der Stellungskampf* von heute erfordert Kenntnisse und Erfahrungen, man muss Verständnis für das Gelände haben, man muss die Geschosse, ihre Geräusche und Wirkungen im Ohr haben, man muss vorausbestimmen können, wo sie einbauen, wie sie streuen und wie man sich schützt.
Dieser junge Ersatz weiß natürlich von alledem noch fast gar nichts. Er wird aufgerieben, weil er kaum ein Schrapnell von einer Granate unterscheiden kann, die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der ungefährlichen großen, weit hinten einbauenden Kohlenkästen lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen Biester überhören. Wie die Schafe drängen sie sich zusammen, anstatt auseinanderzulaufen, und selbst die Verwundeten werden noch wie Hasen von den Fliegern abgeknallt.
Die blassen Steckrübengesichter, die armselig gekrallten Hände, die jammervolle Tapferkeit dieser armen Hunde, die trotzdem vorgehen und angreifen, dieser braven, armen Hunde, die so verschüchtert sind, dass sie nicht laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brüsten und Bäuchen und Armen und Beinen leise nach ihrer Mutter wimmern und gleich aufhören, wenn man sie ansieht!
Ihre toten, flaumigen, spitzen Gesichter haben die entsetzliche Ausdruckslosigkeit gestorbener Kinder.
Es sitzt einem in der Kehle, wenn man sie ansieht, wie sie aufspringen und laufen und fallen. Man möchte sie verprügeln, weil sie so dumm sind, und sie auf die Arme nehmen und wegbringen von hier, wo sie nichts zu suchen haben. Sie tragen ihre grauen Röcke und Hosen und Stiefel, aber den meisten ist die Uniform zu weit, sie schlottert um die Glieder, die Schultern sind zu schmal, die Körper sind zu gering, es gab keine Uniformen, die für dieses Kindermaß eingerichtet waren.
Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten. Ein überraschender Gasangriff rafft viele weg. Sie sind nicht dazu gelangt, zu ahnen, was ihrer wartete. Einen Unterstand voll finden wir mit blauen Köpfen und schwarzen Lippen. In einem Trichter haben sie die Masken zu früh losgemacht; sie wussten nicht, dass sich das Gas auf dem Grunde am längsten hält; als sie andere ohne Maske oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten noch genug, um sich die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos, sie würgen sich mit Blutstürzen und Erstickungsanfällen zu Tode.
* * *In einem Grabenstück sehe ich mich plötzlich Himmelstoß gegenüber. Wir ducken uns in demselben Unterstand. Atemlos liegt alles beieinander und wartet ab, bis der Vorstoß einsetzt.
Obschon ich sehr erregt bin, schießt mir beim Hinauslaufen doch noch der Gedanke durch den Kopf: Ich sehe Himmelstoß nicht mehr. Rasch springe ich in den Unterstand zurück und finde ihn, wie er in der Ecke liegt mit einem kleinen Streifschuss* und den Verwundeten simuliert. Sein Gesicht ist wie verprügelt. Er hat einen Angstkoller, er ist ja auch noch neu hier. Aber es macht mich rasend, dass der junge Ersatz draußen ist und er hier.