Sie drücken ihn nieder. Er schreit leise mit seiner zerschossenen Lunge: »Ich will nicht ins Sterbezimmer.«
»Wir gehen ja zum Verbandssaal.«
»Wozu braucht ihr dann meinen Waffenrock?« Er kann nicht mehr sprechen. Heiser, aufgeregt, flüstert er: »Hierbleiben!«
Sie antworten nicht und fahren ihn hinaus. Vor der Tür versucht er sich aufzurichten. Sein schwarzer Krauskopf bebt, die Augen sind voll Tränen. »Ich komme wieder! Ich komme wieder!« ruft er.
Die Tür schließt sich. Wir sind alle erregt; aber wir schweigen. Endlich sagt Josef: »Hat schon mancher gesagt. Wenn man erst drin ist, hält man doch nicht durch.«
Ich werde operiert und kotze zwei Tage lang. Meine Knochen wollen nicht zusammenwachsen, sagt der Schreiber des Arztes. Bei einem andern sind sie falsch angewachsen; dem werden sie wieder gebrochen. Es ist schon ein Elend.
Unter unserm Zuwachs sind zwei junge Soldaten mit Plattfüßen. Bei der Visite entdeckt der Chefarzt sie und bleibt freudig stehen. »Das werden wir wegkriegen«, erzählt er, »da machen wir eine kleine Operation, und schon haben Sie gesunde Füße. Schreiben Sie auf, Schwester.«
Als er fort ist, warnt Josef, der alles weiß: »Lasst euch ja nicht operieren! Das ist nämlich ein wissenschaftlicher Fimmel* vom Alten. Er ist ganz wild auf jeden, den er dafür zu fassen bekommt. Er operiert euch die Plattfüße, und ihr habt nachher tatsächlich auch keine mehr; dafür habt ihr Klumpfüße* und müsst euer Leben lang an Stöcken laufen.«
»Was soll man denn da machen?« fragt der eine.
»Nein sagen! Ihr seid hier, um eure Schüsse zu kurieren, nicht eure Plattfüße! Habt ihr im Felde keine gehabt? Na, da seht ihr! Jetzt könnt ihr noch laufen, aber wenn der Alte euch erst unter dem Messer gehabt hat, seid ihr Krüppel. Er braucht Versuchskarnickel*, für ihn ist der Krieg eine großartige Zeit deshalb, wie für alle Ärzte. Seht euch unten mal die Station an; da kriechen ein Dutzend Leute herum, die er operiert hat. Manche sind seit vierzehn und fünfzehn hier, jahrelang. Kein einziger kann besser laufen als vorher; fast alle aber schlechter, die meisten nur mit Gipsbeinen. Alle halbe Jahre erwischt er sie wieder und bricht ihnen die Knochen aufs neue, und jedesmal soll dann der Erfolg kommen. Nehmt euch in acht, er darf es nicht, wenn ihr nein sagt.«
»Ach, Mensch!« sagt der eine von den beiden müde. »Besser die Füße als der Schädel. Weißt du, was du kriegst, wenn du wieder draußen bist? Sollen sie mit mir machen, was sie wollen, wenn ich bloß wieder nach Hause komme. Besser ein Klumpfuß als tot.«
Der andere, ein junger Mensch wie wir, will nicht. Am andern Morgen lässt der Alte beide herunterholen und redet und schnauzt so lange auf sie ein, bis sie doch einwilligen. Was sollen sie anders tun. Sie sind ja nur Muskoten, und er ist ein hohes Tier. Vergipst und chloroformiert werden sie wiedergebracht.
Albert geht es schlecht. Er wird geholt und amputiert. Das ganze Bein bis obenhin wird abgenommen. Nun spricht er fast gar nicht mehr. Einmal sagt er, er wolle sich erschießen, wenn er erst wieder an seinen Revolver herankäme.
Ein neuer Transport trifft ein. Unsere Stube erhält zwei Blinde. Einer davon ist ein ganz junger Musiker. Die Schwestern haben nie ein Messer bei sich, wenn sie ihm Essen geben; er hat einer schon einmal eins entrissen. Trotz dieser Vorsicht passiert etwas. Abends beim Füttern wird die Schwester von seinem Bett abgerufen und stellt den Teller mit der Gabel so lange auf seinen Tisch. Er tastet nach der Gabel, fasst sie und stößt sie mit aller Kraft gegen sein Herz, dann ergreift er einen Schuh und schlägt auf den Stiel, so fest er kann. Wir rufen um Hilfe, und drei Mann sind nötig, ihm die Gabel wegzunehmen. Die stumpfen Zinken waren schon tief eingedrungen. Er schimpft die ganze Nacht auf uns, so dass niemand Schlaf findet. Morgens hat er einen Schreikrampf*.
Wieder werden Betten frei. Tage um Tage gehen hin in Schmerzen und Angst, Stöhnen und Röcheln. Auch das Vorhandensein der Totenzimmer nutzt nichts mehr, es sind zu wenig, die Leute sterben nachts auch auf unserer Stube. Es geht eben schneller als die Überlegung der Schwestern.
Aber eines Tages fliegt die Tür auf, der flache Wagen rollt herein, und blass, schmal, aufrecht, triumphierend, mit gesträubtem, schwarzem Krauskopf sitzt Peter auf der Bahre. Schwester Libertine schiebt ihn mit strahlender Miene an sein altes Bett. Er ist zurück aus dem Sterbezimmer. Wir haben ihn längst für tot gehalten.
Er sieht sich um: »Was sagt ihr nun?«
Und selbst Josef muss zugeben, dass er so was zum ersten Male erlebt.
* * *Allmählich dürfen einige von uns aufstehen. Auch ich bekomme Krücken zum Herumhumpeln. Doch ich mache wenig Gebrauch davon; ich kann Alberts Blick nicht ertragen, wenn ich durchs Zimmer gehe. Er sieht mir immer mit so sonderbaren Augen nach. Deshalb entschlüpfe ich manchmal auf den Korridor dort kann ich mich freier bewegen.
Im Stockwerk tiefer liegen Bauch- und Rückenmarkschüsse, Kopfschüsse und beiderseitig Amputierte. Rechts im Flügel Kieferschüsse, Gaskranke, Nasen-, Ohren- und Halsschüsse. Links im Flügel Blinde und Lungenschüsse, Beckenschüsse, Gelenkschüsse, Nierenschüsse, Hodenschüsse, Magenschüsse. Man sieht hier erst, wo ein Mensch übel getroffen werden kann.
Zwei Leute sterben an Wundstarrkrampf. Die Haut wird fahl, die Glieder erstarren, zuletzt leben lange nur noch die Augen. Bei manchen Verletzten hängt das zerschossene Glied an einem Galgen frei in der Luft; unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei oder drei Stunden wird das Gefäss geleert. Andere Leute liegen im Streckverband, mit schweren, herabziehenden Gewichten am Bett. Ich sehe Darmwunden, die ständig voll Kot sind. Der Schreiber des Arztes zeigt mir Röntgenaufnahmen von völlig zerschmetterten Hüftknochen, Knien und Schultern.
Man kann nicht begreifen, dass über so zerrissenen Leibern noch Menschengesichter sind, in denen das Leben seinen alltäglichen Fortgang nimmt. Und dabei ist dies nur ein einziges Lazarett, nur eine einzige Station es gibt Hunderttausende in Deutschland, Hunderttausende in Frankreich, Hunderttausende in Russland. Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.
Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe, dass Völker gegeneinander getrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, dass die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und Rechenschaft* fordern? Was erwarten sie von uns, wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist? Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden?
* * *Der älteste auf unserer Stube ist Lewandowski. Er ist vierzig Jahre alt und liegt bereits zehn Monate im Hospital an einem schweren Bauchschuss. Erst in den letzten Wochen ist er so weit gekommen, dass er gekrümmt etwas hinken kann.
Der älteste auf unserer Stube ist Lewandowski. Er ist vierzig Jahre alt und liegt bereits zehn Monate im Hospital an einem schweren Bauchschuss. Erst in den letzten Wochen ist er so weit gekommen, dass er gekrümmt etwas hinken kann.
Seit einigen Tagen ist er in großer Aufregung. Seine Frau hat ihm aus dem kleinen Nest in Polen, wo sie wohnt, geschrieben, dass sie so viel Geld zusammen hat, um die Fahrt zu bezahlen und ihn besuchen zu können.
Sie ist unterwegs und kann jeden Tag eintreffen. Lewandowski schmeckt das Essen nicht mehr, sogar Rotkohl mit Bratwurst verschenkt er, nachdem er ein paar Happen genommen hat. Ständig läuft er mit dem Brief durchs Zimmer, jeder hat ihn schon ein dutzendmal gelesen, die Poststempel sind wer weiß wie oft schon geprüft, die Schrift ist vor Fettflecken und Fingerspuren kaum noch zu erkennen, und was kommen muss, kommt: Lewandowski kriegt Fieber und muss wieder ins Bett.
Er hat seine Frau seit zwei Jahren nicht gesehen. Sie hat inzwischen ein Kind geboren, das bringt sie mit. Aber etwas ganz anderes beschäftigt Lewandowski. Er hatte gehofft, die Erlaubnis zum Ausgehen zu erhalten, wenn seine Alte kommt, denn es ist doch klar: Sehen ist ganz schön, aber wenn man seine Frau nach so langer Zeit wiederhat, will man, wenn es eben geht, doch noch was anderes.
Lewandowski hat das alles stundenlang mit uns besprochen, denn beim Kommiss gibt es darin keine Geheimnisse. Es findet auch keiner etwas dabei. Diejenigen von uns, die schon ausgehen können, haben ihm ein paar tadellose Ecken in der Stadt gesagt, Anlagen und Parks, wo er ungestört gewesen wäre, einer wusste sogar ein kleines Zimmer.
Doch was nützt das alles. Lewandowski liegt im Bett und hat seine Sorgen. Das ganze Leben macht ihm keinen Spaß mehr, wenn er diese Sache verpassen muss. Wir trösten ihn und versprechen ihm, dass wir den Kram schon irgendwie schmeißen werden.
Am andern Nachmittag erscheint seine Frau, ein kleines, verhutzeltes Ding mit ängstlichen und eiligen Vogelaugen, in einer Art von schwarzer Mantille mit Krausen und Bändern, weiß der Himmel, wo sie das Stück mal geerbt hat.
Sie murmelt leise etwas und bleibt scheu an der Tür stehen. Es erschreckt sie, dass wir sechs Mann hoch sind.
»Na, Marja«, sagt Lewandowski und schluckt gefährlich mit seinem Adamsapfel, »kannst ruhig reinkommen, die tun dir hier nichts.«
Sie geht herum und gibt jedem von uns die Hand. Dann zeigt sie das Kind vor, das inzwischen in die Windeln gemacht hat. Sie hat eine große, mit Perlen bestickte Tasche bei sich, aus der sie ein reines Tuch nimmt, um das Kind flink neu zu wickeln. Damit ist sie über die erste Verlegenheit hinweg, und die beiden fangen an zu reden.
Lewandowski ist sehr kribblig, er schielt immer wieder äußerst unglücklich mit seinen runden Glotzaugen zu uns herüber.
Die Zeit ist günstig, die Arztvisite ist vorbei, es könnte höchstens noch eine Schwester ins Zimmer schauen. Einer geht deshalb noch einmal hinaus spekulieren. Er kommt zurück und nickt. »Kein Aas zu sehen. Nun sags ihr schon, Johann, und mach zu.«
Die beiden unterhalten sich in ihrer Sprache. Die Frau guckt etwas rot und verlegen auf. Wir grinsen gutmütig und machen wegwerfende Handbewegungen, was schon dabei sei! Der Teufel soll alle Vorurteile holen, die sind für andere Zeiten gemacht, hier liegt der Tischler Johann Lewandowski, ein zum Krüppel geschossener Soldat, und da ist seine Frau, wer weiß, wann er sie wiedersieht, er will sie haben, und er soll sie haben, fertig.
Zwei Mann stellen sich vor die Tür, um die Schwestern abzufangen und zu beschäftigen, wenn sie zufällig vorbeikommen sollten. Sie wollen ungefähr eine Viertelstunde aufpassen.
Lewandowski kann nur auf der Seite liegen, einer packt ihm deshalb noch ein paar Kissen in den Rücken, Albert kriegt das Kind zu halten, dann drehen wir uns ein bisschen um, die schwarze Mantille verschwindet unter der Bettdecke, und wir kloppen laut und mit allerhand Redensarten Skat.
Es geht alles gut. Ich habe einen wüsten Kreuz-Solo* mit vieren in den Fingern, der ungefähr noch rumgeht. Darüber vergessen wir beinahe Lewandowski. Nach einiger Zeit beginnt das Kind zu plärren, obschon Albert es verzweifelt hin und her schwenkt. Es knistert und rauscht dann ein bisschen, und als wir so beiläufig aufblicken, sehen wir, dass das Kind schon die Flasche im Mund hat und wieder bei der Mutter ist. Die Sache hat geklappt.
Wir fühlen uns jetzt als eine große Familie, die Frau ist ordentlich munter geworden, und Lewandowski liegt schwitzend und strahlend da.
Er packt die gestickte Tasche aus, es kommen da ein paar gute Würste zum Vorschein, Lewandowski nimmt das Messer wie einen Blumenstrauß und säbelt das Fleisch in Stücke. Mit großer Handbewegung weist er auf uns und die kleine, verhutzelte Frau geht von einem zum andern und lacht uns an und verteilt die Wurst, sie sieht jetzt direkt hübsch aus dabei. Wir sagen Mutter zu ihr, und sie freut sich und klopft uns die Kopfkissen auf.
Nach einigen Wochen muss ich jeden Morgen ins Zanderinstitut*. Dort wird mein Bein festgeschnallt und bewegt. Der Arm ist längst geheilt.
Es laufen neue Transporte aus dem Felde ein. Die Verbände sind nicht mehr aus Stoff, sie bestehen nur noch aus weißem Krepppapier*. Verbandstoff ist zu knapp geworden draußen.
Alberts Stumpf heilt gut. Die Wunde ist fast geschlossen. In einigen Wochen soll er fort in eine Prothesenstation. Er spricht noch immer wenig und ist viel ernster als früher. Oft bricht er mitten im Gespräch ab und starrt vor sich hin. Wenn er nicht mit uns andern zusammen wäre, hätte er längst Schluss gemacht. Jetzt aber ist er über das Schlimmste hinausgelangt. Er sieht schon manchmal beim Skat zu.
Ich bekomme Erholungsurlaub.
Meine Mutter will mich nicht mehr fortlassen. Sie ist so schwach. Es ist alles noch schlimmer als das letztemal.
Danach werde ich vom Regiment angefordert und fahre wieder ins Feld.
Der Abschied von meinem Freunde Albert Kropp ist schwer. Aber man lernt das beim Kommiss mit der Zeit.
Aufgaben zum Text
1. Welchen Auftrag haben die Freunde bekommen?
2. Beschreiben Sie ihr Leben im Dorf.
3. Wie werden sie verwundet?
4. Was geschieht im Feldlazarett?
5. Warum gehts morgen ab nach Hause?
6. Beschreiben Sie den Weg nach Hause.
7. Warum will Paul auch ausgeladen werden?
8. Warum kommt der Lazarettinspektor?
9. Warum hat Josef Hamacher sich gemeldet? Wie haben Sie es verstanden, wer bekommt einen Jagdschein?
10. In welchem Zusammenhang sagt Josef den folgenden Satz: Wenn man erst drin ist, hält man doch nicht durch? Was bedeutet das?
11. Wer ist Lewandowski?
12. Wie verstehen Sie den folgenden Satz: Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist? Sind Sie damit einverstanden?
13. Warum nennt man die Helden des Romans Vertreter der verlorenen Generation? Begründen Sie diese These mit den entsprechenden Textfragmenten.
Texterläuterungen
Himmel, der eine Art Dach aus Stoff (z.B. über einem Thron oder einem Bett); Baldachin
Schlaraffenhaus, das zu Schlaraffenland: ein märchenhaftes Land, wo Milch und Hönig fließen, wo Faulheit verdienstvoll und Tugend das höchste Laster ist
Funker, der jemand, der meist beruflich funkt (mithilfe von elektromagnetischen Wellen Signale und jemandem so Informationen gibt)
Weser, die Strom in Norddeutschland; An der Weser bekanntes Volks- und Soldatenlied
Tjaden begibt sich auf ein Gastspiel zu Götz von Berlichingen Tjaden beginnt unanständig zu schimpfen.