Was hast du gegen unseren Hendrik? Frau von Herzfeld zwang sich zu einem ironischen Ton; in Wahrheit war ihr keineswegs nach Ironie zumute, wenn sie von Höfgen sprach, für dessen geübte Reize sie nur zu empfänglich war, Er ist unser bestes Stück. Wir können froh sein, wenn wir ihn nicht an Berlin verlieren.
Ich bin gar nicht so besonders stolz auf ihn, sagte Kroge. Er ist doch nicht mehr als ein routinierter Provinzschauspieler, und das weiß er übrigens im Grunde selbst ganz genau.
Schmilz fragte: Wo steckt er denn heute abend? worauf Frau von Herzfeld leise durch die Nase lachte: Er hat sich in seiner Garderobe hinter einem Paravent versteckt der kleine Bock hat es mir erzählt. Er ist immer furchtbar aufgeregt und eifersüchtig, wenn Berliner Gäste da sind. So weit wie die werde er es niemals bringen, sagt er dann und versteckt sich hinter einem Paravent, vor lauter Hysterie. Die Martin bringt ihn wohl besonders aus der Fassung, das ist so eine Art von Hassliebe bei ihm. Heute abend soll er schon einen Weinkrampf gehabt haben.
Da seht ihr seinen Minderwertigkeitskomplex! rief Kroge und schaute triumphierend um sich. Oder vielmehr: dass er im Grunde irgendwo die richtige Einschätzung hat für sich selber.
Die drei saßen in der Theaterkantine, die, nach den Initialen des Hamburger Künstlertheaters, kurz H. K. genannt wurde.
Drunten, im Theater, spielte Dora Martin, die mit ihrer heiseren Stimme, der verführerischen Magerkeit des ephebischen Körpers und den tragisch weiten, kindlichen und unergründlichen Augen das Publikum der großen deutschen Städte verhexte, einen Reißer zu Ende. Die beiden Direktoren und Frau von Herzfeld hatten nach dem zweiten Akt ihre Loge verlassen. Die übrigen Mitglieder des Künstlertheaters waren im Saal geblieben, um der Berliner Kollegin, die sie halb bewunderten und halb hassten, bis zum Schluss zuzusehen.
Das Ensemble, das sie sich mitgebracht hat, ist ja wirklich unter jeder Kritik, stellte Kroge verächtlich fest.
Was wollen Sie? meinte Schmilz. Wie soll sie jeden Abend ihre tausend Mark verdienen, wenn sie sich auch noch teure Leute mit auf die Reise nimmt?
Aber sie selber wird immer besser, sagte die kluge Herzfeld. Sie kann sich jede Manieriertheit leisten. Sie kann wie ein geisteskrankes Baby sprechen: Sie bezwingt.
Geisteskrankes Baby ist nicht schlecht, lachte Kroge. Man scheint unten fertig zu sein, fügte er hinzu, mit einem Blick durchs Fenster. Die Leute kamen den gepflasterten Weg herauf, der vom Theater, an der Kantine vorbei, zu dem Tor führte, durch das man auf die Straße trat.
Nach und nach füllte sich die Kantine. Die Schauspieler grüßten mit einer respektvoll betonten Herzlichkeit den Direktorentisch und riefen dem Wirt, einem gedrungenen, kräftigen Greise mit weißem Knebelbart und blauroter Nase, kleine Scherze zu. Väterchen Hansemann, der Kantinenbesitzer, war für das Ensemble eine beinah ebenso bedeutungsvolle Persönlichkeit wie Schmilz, der geschäftliche Direktor. Von Schmilz konnte man Vorschuss bekommen, wenn er sich gerade in gnädiger Laune befand; bei Hansemann aber musste man anschreiben lassen, wenn in der zweiten Monatshälfte die Gage aufgebraucht und ein Vorschuss nicht genehmigt worden war. Alle standen bei ihm in der Kreide; man behauptete, dass Höfgen ihm mehr als hundert Mark schuldig war.
Alle sprachen über Dora Martin, jeder hatte seine eigene Ansicht über den Rang ihrer Leistung; nur darüber, dass sie entschieden zuviel Geld verdiente, waren alle sich einig.
Die Motz erklärte: An dieser Starwirtschaft geht das deutsche Theater zugrunde wozu ihr Freund Petersen grimmig nickte. Petersen war Väterspieler mit dem Ehrgeiz zum Heroischen; er bevorzugte Könige oder adlige alte Haudegen in historischen Stücken. Leider war er etwas zu klein und dick für diese Partien was er auszugleichen suchte durch eine stramme und kampfeslustige Haltung. Zu seinem Gesicht, das den Ausdruck falscher Biederkeit zeigte, hätte ein grauer Schifferbart gepasst; da er fehlte, wirkte seine Miene ein wenig kahl, mit der langen, rasierten Oberlippe und den sehr blauen, ausdrucksvoll blitzenden, zu kleinen Augen. Die Motz liebte ihn mehr als er sie: das wussten alle. Da er genickt hatte, wandte sie sich nun direkt an ihn, um in einem intimen und bedeutungsvollen Ton zu sagen: Nicht wahr, Petersen: über diese Misswirtschaft haben wir schon häufig miteinander gesprochen? Er bestätigte treuherzig: Gewiss doch, Frau! und blinzelte Rahel Mohrenwitz zu, die aufgemacht war als das perverse und dämonische junge Mädchen: mit schwarzen Ponys bis zu den rasierten Augenbrauen und einem großen, schwarzgerandeten Monokel im Gesicht, das übrigens kindlich, pausbäckig und völlig ungeformt war.
In Berlin wirken die Martinschen Mätzchen vielleicht, sprach die Motz resolut. Aber unsereinem kann sie nichts vormachen, wir sind schließlich lauter alte Theaterhasen. Sie blickte beifallheischend um sich. Ihr Fach war die komische Alte; zuweilen durfte sie auch reife Salon-damen spielen. Sie lachte gern, viel und laut, wobei sie scharfe Falten um den Mund bekam, in dessen Innerem Gold funkelte. Im Augenblick freilich zeigte sie eine würdevoll ernste, beinah zornige Miene.
Rahel Mohrenwitz sagte, wobei sie hochmütig mit ihrer langen Zigarettenspitze spielte: Niemand kann schließlich leugnen, dass die Martin irgendwo eine enorm starke Persönlichkeit ist. Was sie auf der Bühne auch macht: immer ist sie unerhört intensiv da ihr versteht, was ich meine Alle verstanden es; die Motz aber schüttelte missbilligend den Kopf, während die kleine Angelika Siebert mit ihrem hohen, schüchternen Stimmchen erklärte: Ich bewundere die Martin. Es geht eine zauberhafte Kraft von ihr aus, finde ich Sie wurde sehr rot, weil sie einen so langen und gewagten Satz vorgebracht hatte. Alle sahen mit einer gewissen Rührung zu ihr hin. Die kleine Siebert war reizend. Ihr Köpfchen mit dem kurzgeschnittenen, links gescheitelten blonden Haar glich dem eines dreizehnjährigen Buben. Ihre hellen und unschuldigen Augen wurden dadurch nicht weniger anziehend, dass sie kurzsichtig waren: manche fanden, dass gerade die Art, auf die Angelika beim Schauen die Augen zusammenkniff, ihren besonderen Charme ausmache.
Unsere Kleine schwärmt wieder einmal, sagte der schöne Rolf Bonetti und lachte etwas zu laut. Er war jenes Mitglied des Ensembles, das die meisten Liebesbriefe aus dem Publikum erhielt: daher sein stolzer, müder, vor lauter Blasiertheit beinah angewiderter Gesichtsausdruck. Der kleinen Angelika gegenüber jedoch war er der Werbende: schon seit längerem bemühte er sich um sie. Auf der Bühne durfte er sie oft in den Armen halten, das brachte sein Rollenfach mit sich. Im übrigen aber blieb sie spröde. Mit einer wunderlichen Hartnäckigkeit verschenkte sie ihre Zärtlichkeit nur dorthin, wo nicht die mindeste Aussicht bestand, dass man sie erwiderte oder auch nur wünschte. Rührend und begehrenswert, wie sie war, schien sie ganz dafür gemacht, viel geliebt und sehr verwöhnt zu werden. Der sonderbare Eigensinn ihres Herzens aber ließ sie kühl und spöttisch bleiben vor Rolf Bonettis stürmischen Beteuerungen, und ließ sie bitterlich weinen über die eisige Geringschätzung, die Hendrik Höfgen ihr gegenüber an den Tag legte.
Rolf Bonetti sagte kennerhaft: Als Frau kommt diese Martin jedenfalls gar nicht in Frage: ein unheimlicher Zwitter sicher hat sie so etwas wie Fischblut in den Adern.
Ich finde sie schön, sagte Angelika, leise aber entschlossen. Sie ist die schönste Frau, finde ich. Schon standen ihr die Augen voll Tränen: Angelika weinte häufig, auch ohne besonderen Anlass. Träumerisch sagte sie noch: Es ist merkwürdig ich spüre irgendeine geheimnisvolle Ähnlichkeit zwischen Dora Martin und Hendrik Dies erregte allgemeine Verwunderung.
Die Martin ist eine Jüdin. Es war der junge Hans Miklas, der sich unvermittelt so vernehmen ließ. Alle schauten betroffen und etwas angewidert zu ihm hin. Der Miklas ist köstlich, sprach die Motz in ein betretenes Schweigen hinein und versuchte zu lachen. Kruge runzelte die Stirne, verwundert und degoutiert, während Frau von Herzfeld nur den Kopf schütteln konnte; übrigens war sie blass geworden. Da die Pause lang und peinlich wurde der junge Miklas stand bleich und trotzig an die Theke gelehnt , sagte Direktor Kruge schließlich ziemlich scharf: Was soll denn das? und machte ein Gesicht, so böse, wie es ihm eben möglich war. Ein anderer junger Schauspieler, der sich bis dahin leise mit Vater Hansemann unterhalten hatte, sagte forsch und versöhnlich: Hoppla, das ist danebengegangen! Lass nur, Miklas, so was kann vorkommen, du bist sonst ein ganz braves Kind! Dabei klopfte er dem Übeltäter auf die Schulter und lachte so herzlich, dass alle einstimmen konnten; sogar Kroge entschloss sich zu einer Heiterkeit, die freilich krampfhaften Charakter hatte: er schlug sich, mit der flachen Hand auf den Schenkel und warf den Oberkörper nach vorne, so heftig schien er sich plötzlich zu amüsieren. Miklas aber blieb ernst; er drehte das verstockte, bleiche Gesicht zur Seite, die Lippen böse aufeinandergepresst. Sie ist doch eine Jüdin. Er sprach so leise, dass fast niemand es hören konnte; nur Otto Ulrichs, der gerade erst durch seine Unbefangenheit die Situation gerettet hatte, hörte es, und nun strafte er ihn mit einem ernsten Blick.
Nachdem Direktor Kroge durch sein Gelächter ausführlich bekundet hatte, dass er die Entgleisung des jungen Miklas durchaus von der komischen Seite nahm, winkte er Ulrichs. Ach, Ulrichs, kommen Sie doch bitte mal einen Augenblick! Ulrichs setzte sich an den Tisch zu den Direktoren und Frau von Herzfeld.
Ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, wirklich nicht. Kroge ließ es sich anmerken, dass die Sache ihm äußerst peinlich war. Aber es kommt jetzt immer häufiger vor, dass Sie in kommunistischen Versammlungen auftreten. Gestern haben Sie schon wieder irgendwo mitgemacht. Das schadet Ihnen doch, Ulrichs, und uns schadet es auch. Kroge sprach leise. Sie wissen doch, wie die bürgerlichen Zeitungen sind, Ulrichs, sagte er eindringlich. Suspekt sind wir den Leviten[26] ohnedies. Wenn eines unserer Mitglieder sich nun politisch exponiert es kann verhängnisvoll für uns sein, Ulrichs. Kroge trank sehr hastig seinen Kognak aus, er war sogar etwas rot geworden.
Ulrichs antwortete ruhig; Es ist mir sehr erwünscht, Herr Direktor, dass Sie von diesen Dingen zu mir sprechen. Natürlich habe ich auch schon über sie nachgedacht. Vielleicht ist es besser, wir trennen uns, Herr Direktor glauben Sie mir, dass es mir nicht leichtfällt, diesen Vorschlag zu machen. Aber auf meine politische Betätigung kann ich nicht verzichten. Ihr müsste ich sogar mein Engagement opfern, und das wäre ein Opfer; denn ich bin gerne hier. Er sprach mit einer angenehmen, dunklen und warmen Stimme. Während er redete, schaute Kroge mit einer väterlichen Sympathie auf sein intelligentes, kraftvolles Gesicht. Otto Ulrichs war ein gut aussehender Mann. Seine hohe, freundliche Stirn, von der das schwarze Haar weit zurückwich, und die engen, dunkelbraunen, gescheiten und lustigen Augen flößten Vertrauen ein. Kroge mochte ihn sehr. Deshalb wurde er jetzt beinahe zornig.
Aber Ulrichs! rief er aus. Davon kann doch gar keine Rede sein. Sie wissen ganz genau, dass ich Sie niemals fortlassen würde!
Wir können Sie gar nicht entbehren! fügte Schmilz hinzu der dicke Mensch überraschte zuweilen durch eine merkwürdig vibrierende, helle und hübsche Stimme ; wozu die Herzfeld ernst bestätigend nickte.
Es ist doch nur ein klein bisschen Zurückhaltung, worum ich Sie bitte, versicherte Kroge.
Ulrichs sagte mit Herzlichkeit: Ihr seid alle sehr nett zu mir wirklich sehr nett und ich werde mir Mühe geben, dass ich euch nicht gar zu sehr kompromittiere. Die Herzfeld lächelte ihm vertraulich zu. Es ist Ihnen ja wohl nicht ganz unbekannt, sagte sie leise, dass wir politisch weitgehend mit Ihnen sympathisieren. Der Mann, mit dem sie in Frankfurt verheiratet gewesen war und dessen Namen sie führte, war Kommunist. Er war viel jünger als sie und hatte sie verlassen. Zur Zeit arbeitete er in Moskau als Filmregisseur.
Weitgehend! betonte Kroge mit lehrhaft erhobenem Zeigefinger. Wenngleich nicht ganz, nicht in allen Stücken. Nicht alle unsere Träume haben sich in Moskau erfüllt. Können die Träume, die Forderungen, die Hoffnungen der Geistigen sich erfüllen unter der Diktatur?
Ulrichs antwortete ernst, wobei seine engen Augen noch schmaler wurden und einen beinahe drohenden Blick bekamen: Nicht nur die Geistigen oder die, welche sich so nennen haben ihre Hoffnungen und Forderungen. Noch dringlicher sind die Forderungen des Proletariats. Diese waren, so wie die Welt heute ist, nur zu erfüllen mittels der Diktatur. Hier zeigte Direktor Schmilz ein bestürztes Gesicht. Ulrichs, um dem Gespräch eine leichtere Wendung zu geben, sagte lächelnd: Übrigens wäre auf der Versammlung gestern das Künstlertheater beinah durch sein prominentestes Mitglied repräsentiert worden. Hendrik wollte eigentlich auftreten im letzten Augenblick ist er dann leider verhindert gewesen.
Höfgen wird immer im letzten Augenblick verhindert sein, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die bedenklich für seine Karriere werden könnten. Kroge hatte verächtlich den Mund verzogen, während er dies sagte. Hedda von Herzfeld sah ihn flehend und kummervoll an. Als aber Otto Ulrichs mit Überzeugung äußerte: Hendrik gehört zu uns, wiederholte Ulrichs. Und er wird das durch die Tat beweisen. Seine Tat wird das Revolutionäre Theater sein. In diesem Monat soll es eröffnet werden.
Noch ist es nicht eröffnet. Kroge lächelte boshaft. Zunächst ist nur das Briefpapier da, mit der schönen Überschrift Revolutionäres Theater. Nehmen wir aber sogar einmal an, es kommt zur Eröffnung: Glauben Sie, Höfgen wird sich heraustrauen mit einem wirklich revolutionären Stück?
Ziemlich heftig erwiderte Ulrichs: In der Tat glaube ich das! Übrigens ist das Stück ja schon ausgesucht man kann wohl sagen, dass es ein revolutionäres ist.
Kroge machte, mit der Miene und Gebärde eines müden und verächtlichen Zweifels: Wir werden ja sehen. Hedda von Herzfeld, die bemerkte, dass Ulrichs rot wurde vor Ärger, fand es geraten, nunmehr das Thema zu wechseln.
Was war das eigentlich vorhin für eine fantastische kleine Äußerung von diesem Miklas? Stimmt es also doch, dass der Bursche Antisemit ist und mit den Nationalsozialisten zu tun hat? Bei dem Wort Nationalsozialisten verzerrte sich ihr Gesicht vor Ekel, als hätte sie eine tote Ratte berührt. Schmilz lachte verächtlich, während Kroge sagte: So einen können wir gerade gebrauchen! Ulrichs versicherte sich durch einen Seitenblick, dass Miklas ihnen nicht zuhörte, ehe er mit gedämpfter Stimme erklärte:
Hans ist im Grunde ein guter Kerl ich weiß das, denn ich habe mich oft mit ihm unterhalten. Mit so einem Jungen muss man sich viel und nachsichtig beschäftigen dann gewinnt man ihn vielleicht noch für die gute Sache. Ich glaube nicht, dass er für uns schon ganz verloren ist. Seine Aufsässigkeit, seine allgemeine Unzufriedenheit sind falsch gelandet verstehen Sie, was ich meine? Frau Hedda nickte; Ulrichs flüsterte eifrig: In so einem jungen Kopf ist alles wirr, alles ungeklärt es laufen ja heute Millionen herum wie dieser Miklas. Bei denen gibt es vor allem einen Hass, und der ist gut, denn er gilt dem Bestehenden. Aber dann hat so ein Bursche Pech und fällt den Verführern in die Hände, und die verderben seinen guten Hass. Sie erzählen ihm, an allem Übel seien die Juden schuld, und der Vertrag von Versailles[27], und er glaubt den Dreck und vergisst, wer eigentlich die Schuldigen sind, hier und überall. Das ist das berühmte Ablenkungsmanöver, und bei all diesen jungen Wirrköpfen, die nichts wissen und nicht richtig nachdenken können, hat es Erfolg. Da sitzt dann so ein Häufchen Unglück und lässt sich Nationalsozialist schimpfen!