Aber es gab zwei, denen gerade diese große und so zur Schau getragene Absichtslosigkeit auffällig vorkam: Winnetou und Old Shatterhand. Sofort richteten sie ihre Augen scheinbar von der Tür weg, aber nur scheinbar, denn wer das wohlgeübte Auge eines Westmanns kennt, der weiß, dass es im Stande ist, auch von der Seite her so viele Strahlen aufzunehmen, um genau zu sehen, was da geschieht, wohin es nicht zu blicken scheint.
An der Tür angekommen, drehte sich der Scout für einige Sekunden um; er sah kein einziges Auge auf sich gerichtet und gab mit einer schnellen, kurzen Bewegung der Hand dem Roten ein Zeichen, dessen Bedeutung nur dem verständlich sein konnte, mit dem es verabredet worden war. Dann drehte er sich wieder um und trat in die dunkle Nacht hinaus.
Dieses Zeichen war ebensowohl von Winnetou wie auch von Old Shatterhand bemerkt worden; sie tauschten nur einen Blick miteinander aus und waren dann, ohne ein Wort gesprochen zu haben, darüber einig, was zu geschehen hatte. Was sie vermuteten und was sie wollten, war Folgendes: Der fremde Indianer stand im heimlichen Einvernehmen mit dem Scout, denn er hatte ein Zeichen von ihm bekommen. Heimlich war dieses Einvernehmen, weil sie darauf bedacht gewesen waren, es nicht sehen und wissen zu lassen. Aus dieser Heimlichkeit war auf eine böse Absicht zu schließen, der man unbedingt auf die Spur kommen musste. Es musste nun jemand dem Scout folgen, um sein Tun zu belauschen. Da nun mit Sicherheit anzunehmen war, dass es sich um den Indianer handle, wollte Winnetou dieses Beschleichen übernehmen. Leider durfte er da nicht zur Tür hinaus, denn diese war hell beleuchtet und der Scout stellte sich gewiss so auf, dass er jede Person, die den Schuppen verließ, sehen konnte. Glücklicherweise hatte der Apatsche vorhin bemerkt, dass es hinter den Fässern, Ballen und Kisten eine kleine Tür gab, wohl zu dem Zweck, diese Gegenstände herein- und hinausschaffen zu können, ohne dass man erst nach dem Haupteingang musste. Durch diese Hintertür wollte der Häuptling hinaus. Da dies aber möglichst unbemerkt zu geschehen hatte, so musste er warten, bis die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf Old Shatterhand gerichtet worden war, was sicherlich sofort geschah, sobald dieser mit dem Indianer zu sprechen begann.
Das war das Zweite, was man tun musste, nämlich den Indianer ins Verhör nehmen, um womöglich etwas aus ihm herauszulocken, was auf seine Absichten schließen ließ.
Old Shatterhand zögerte auch gar nicht, seine Forschung zu beginnen, und als alle auf ihn hörten und ihre Augen auf ihn richteten, glitt Winnetou von dem Tisch fort, um hinter den Fässern zu verschwinden und zu der erwähnten Tür zu gelangen.
Der Indsman war ein kräftig gebauter, in den mittleren Jahren stehender Mann. Bald zeigte es sich, dass er auch in Beziehung auf seinen Verstand kein Schwächling war. Dies hatte Old Shatterhand freilich vorausgesehen, denn solch heimliche und gefährliche Aufträge pflegt nur ein kluger Krieger zu bekommen.
Mein roter Bruder hat sich fern von uns gesetzt. Will er nichts essen oder trinken?, so lautete die erste Frage Old Shatterhands.
Der Rote antwortete nur mit einem Kopfschütteln.
Warum nicht? Hast du weder Durst noch Hunger?
Juwaruwa hat Hunger und auch Durst, aber er hat kein Geld, ließ sich jetzt der Rote hören.
Juwaruwa, so ist dein Name?
So werde ich genannt.
Das heißt Elk in der Sprache der Upsarokas[13]. Gehörst du zu diesem Stamm?
Ich bin ein Krieger des Stammes.
Wo weidet er jetzt seine Pferde?
In Wyoming.
Und wie heißt sein Kriegshäuptling?
Er wird Grauer Bär genannt.
Old Shatterhand war zufälligerweise vor kurzer Zeit bei den Krähenindianern gewesen, die zum Volk der Dakotas gehören; er war also zu beurteilen im Stande, ob der Indianer ihn belog. Die Antworten enthielten die Wahrheit.
Wenn mein Bruder nichts bezahlen kann, so mag er sich zu uns setzen und mit uns essen, fuhr er fort.
Der Indianer warf einen forschenden Blick auf ihn und erklärte: Juwaruwa ist ein tapferer Krieger; er isst nur mit Männern, die er kennt und die ebenso tapfer sind. Hast du einen Namen und wie lautet er?
Man nennt mich Old Shatterhand.
Old Shatt...!
Der Name blieb ihm im Munde stecken. Er hatte nur für einen Augenblick seine Ruhe und Selbstbeherrschung verloren, aber doch dadurch verraten, dass er erschrocken war. Er nahm sich schnell wieder zusammen und fuhr in scheinbarer Unbefangenheit fort: Old Shatterhand? Uff! So bist du ein sehr berühmtes Bleichgesicht.
Mit dem du also essen kannst. Komm her zu uns und iss und trink!
Anstatt dieser Aufforderung Folge zu leisten, ließ der Indsman seinen Blick suchend umhergehen und fragte:
Ich sehe den roten Mann nicht, der an deiner Seite saß. Wo ist er hin?
Er wird draußen im anderen Raum sein.
Ich gewahrte nicht, dass er hinausging. Wenn du Old Shatterhand bist, so ist er wohl Winnetou, der Häuptling der Apatschen?
Er ist es. Wo hast du dein Pferd?
Ich reite nicht.
Wie? Ein Upsaroka, der sich so viele Tagesreisen südwärts von seinem Stamm befindet, hat kein Pferd? Hast du es unterwegs verloren?
Nein. Ich habe keins mitgenommen.
Auch keine Waffen als nur das Messer?
Keine.
Das muss ja sehr wichtige Gründe haben!
Ich habe einen Schwur getan, ohne Pferd und nur mit dem Messer zu gehen.
Warum?
Weil die Komantschen auch ohne Pferde und andere Waffen waren.
Komantschen? Wo waren sie?
Oben, nahe bei unseren damaligen Weidegründen in Dakota.
Komantschen so weit im Norden? Sonderbar.
Old Shatterhand ließ seinen Zweifel auch im Ton mitklingen. Der Rote warf ihm einen fast höhnischen Blick zu und antwortete: Weiß Old Shatterhand nicht, dass jeder indianische Krieger einmal nach Dakota muss, um den heiligen Ton zur Friedenspfeife zu holen?
Nicht jeder braucht dies zu tun und nicht jeder hat es getan.
Die Komantschen aber taten es. Sie begegneten mir und meinem Bruder; ihn erstachen sie und mir gelang es zu entkommen. Dann tat ich meinen Schwur und bin ohne Pferd und nur mit dem Messer hinter ihnen her; ich werde nicht ruhen, bis ich sie getötet habe!
Da du mich an die heiligen Bräuche mahnst, so wirst du wissen, dass kein Indsman auf dem Weg nach diesen Steinbrüchen einen anderen töten darf?
Die Komantschen begingen dennoch den Mord!
Hm! Aber warum diesen Schwur? Ohne Pferd und nur mit dem Messer! Wie willst du jagen? Wovon hast du unterwegs gelebt?
Habe ich dir das zu sagen?, fragte der Indianer stolz, denn er glaubte, Old Shatterhand vollständig getäuscht zu haben.
Nein, antwortete dieser ruhig. Ich kann nur nicht begreifen, dass du während so langer Zeit und auf einem so langen Weg auf kein Pferd gekommen bist.
Ich tat den Schwur und habe ihn gehalten.
Nein, sondern du hast ihn übertreten!
Beweise es!
Du hast heute im Sattel gesessen!
Uff, uff!
Ja, während des Regens.
Uff, uff!, wiederholte der angebliche Upsaroka; es klang halb wie Schreck und halb wie Trotz. Er war aufgesprungen und stand jetzt nahe vor Old Shatterhand. Der weiße Jäger bückte sich, strich ihm mit beiden Händen an den Beinen nieder und sagte dann: Deine Leggins sind an den Außenseiten nass und nach einwärts trocken. Die Innenseiten, die am Leibe des Pferdes anlagen, hat der Regen nicht treffen können.
Ich tat den Schwur und habe ihn gehalten.
Nein, sondern du hast ihn übertreten!
Beweise es!
Du hast heute im Sattel gesessen!
Uff, uff!
Ja, während des Regens.
Uff, uff!, wiederholte der angebliche Upsaroka; es klang halb wie Schreck und halb wie Trotz. Er war aufgesprungen und stand jetzt nahe vor Old Shatterhand. Der weiße Jäger bückte sich, strich ihm mit beiden Händen an den Beinen nieder und sagte dann: Deine Leggins sind an den Außenseiten nass und nach einwärts trocken. Die Innenseiten, die am Leibe des Pferdes anlagen, hat der Regen nicht treffen können.
Auf diesen scharfsinnigen Beweis war der Indianer nicht gefasst gewesen, aber seine Schlauheit gab ihm schnell eine Ausrede ein: Jedes Kind weiß, dass die Innenseiten der Hosen eher trocken werden als die äußeren. Old Shatterhand hat noch viel zu lernen!
Diese Frechheit war groß; der Jäger blieb dennoch ruhig. Er hatte sich bisher der englischen Sprache bedient, deren der Rote leidlich mächtig war; jetzt aber legte er ihm eine Frage im Dialekt der Upsarokas vor und erhielt keine Antwort. Er sprach noch einige andere Fragen aus, doch mit demselben Misserfolg; dann legte er dem Indsman schwer die Hand auf die Schulter und sagte englisch: Warum antwortest du mir nicht? Ist dir die Sprache deines eigenen Stammes unbekannt?
Ich habe den Schwur getan, sie nicht eher zu sprechen, als bis der Tod meines Bruders gerächt worden ist.
So, deine Schwüre scheinen alle außerordentlich sonderbar ausgefallen zu sein! Noch viel sonderbarer aber ist die Dummheit, in der du dir einbildest, mich betrügen zu können. Gerade deine Sprache ists, die dich verrät. Ich weiß ganz genau, wie ein Upsaroka und wie jeder andere Stamm die Sprache der Bleichgesichter redet. Du bist nicht ein Krähenindianer, sondern ein Komantsche. Hast du den Mut, dies einzugestehen?
Die Komantschen sind meine Feinde; das habe ich dir bereits gesagt!
Gerade, dass du sie deine Feinde nennst, ist für mich der Beweis, dass du einer bist!
So machst du mich zum Lügner? Das ist die Sitte der Weißen, ihre roten Gäste zu beleidigen. Ich gehe! Er wollte nach der Tür.
Du bleibst!, gebot Old Shatterhand, indem er ihn beim Arm ergriff.
Da zog der Indianer sein Messer und rief: Wer hat das Recht, mich zu halten? Du? Was habe ich dir getan? Nichts! Ich werde gehen, und jeder, der mich daran hindern will, bekommt dieses Eisen in das Herz!
Old Shatterhand hielt ihn trotzdem mit der Linken fest, entriss ihm mit einem schnellen Griff seiner rechten Hand das Messer und wiederholte: Du bleibst! Wir warten, bis Winnetou zurückkehrt; dann wird es sich entscheiden, ob du gehen darfst oder nicht. Kauere dich wieder hin, wo du vorhin gehockt hast. Ein Versuch zur Flucht bringt dir eine Kugel.
Er schleuderte ihn nach der betreffenden Stelle hin; der Indsman stürzte dort nieder; er wollte sich aufraffen, besann sich aber anders und blieb kauern. Old Shatterhand setzte sich wieder zum Essen nieder und legte den gespannten Revolver neben sich, um seiner Drohung Nachdruck zu geben.
Das unterbrochene Abendmahl wurde fortgesetzt, doch kam das Gespräch nicht mehr in Fluss. Nach einiger Zeit kehrte der Scout zurück und setzte sich an seinen Platz. Da er den Indianer in derselben Stellung fand, die dieser vorher eingenommen hatte, so ahnte er nicht, was inzwischen geschehen war. Der Verwalter und der Aufseher, die bei ihm saßen, erzählten es ihm; er hörte es und blieb äußerlich ruhig, obgleich er innerlich große Sorge hatte, von Winnetou belauscht worden zu sein.
Als der Apatsche vorhin durch die Hintertür geglitten war, hatte er sich in einem weiten Bogen nach vorn geschlichen, in der Meinung, dort den Scout bei irgendeinem Streich zu ertappen. Die breite, offene Tür des Shops war hell erleuchtet, und wenn man sie, immer weiter gehend, unausgesetzt im Auge behielt, musste man jeden Menschen sehen, der sich zwischen ihr und diesem Auge befand.
Winnetou schlug seinen Bogen weiter und immer weiter, vergeblich! Er blieb oft halten und lauschte in die Nacht hinaus, ebenso vergeblich. Er kehrte zurück und begann von Neuem, wieder ohne Erfolg.
Darüber verging die Zeit, bis er eine Gestalt von seitwärts her kommen und sich dem Shop nähern sah; als sie die Tür erreichte und hineinging, erkannte er, wer es war.
Uff! Das war der Scout, sagte er zu sich selbst. Er scheint doch nichts Heimliches vorgehabt zu haben; darum habe ich hier umsonst nach ihm gesucht. Winnetou hat sich einmal geirrt. Old Shatterhand wird sich sehr darüber wundern.
Er gab sich nun keine Mühe, unbemerkt zurückzukehren, sondern benutzte die vordere, helle Tür. Als der Scout ihn kommen sah, fühlte er seinen Puls schneller gehen. Jetzt musste es sich zeigen, ob der Apatsche etwas erlauscht hatte oder nicht. Dieser setzte sich neben Old Shatterhand, der ihm das Ergebnis des Verhörs mitteilte und am Schluss leise fragte: Hat mein roter Bruder Glück gehabt?
Winnetou konnte weder Glück noch Unglück haben, weil er sich im Irrtum befand. Es hat gar nichts vorgelegen.
Aber das Zeichen, das der Scout dem Roten gab?
Das war vielleicht kein Zeichen, sondern eine unwillkürliche Armbewegung.
So hätte auch ich mich geirrt und das möchte ich kaum annehmen. Und dieser Indsman da ist kein Upsaroka, sondern ein Komantsche.
Hat er dir oder mir oder einem anderen etwas getan?
Bis jetzt freilich noch nicht.
So darf man ihn auch noch nicht als Feind behandeln. Mein Bruder Shatterhand mag ihn freigeben.
Nun wohl, weil du es willst; aber ich tue es nur ungern.
Er sagte dem Roten, dass er sich entfernen könne. Dieser stand langsam auf und forderte sein Messer zurück.
Als er es erhalten hatte, steckte er es mit den Worten in den Gürtel: Dieses Messer hat heute mehr Arbeit bekommen, denn ich habe bei mir einen neuen Schwur getan. Old Shatterhand wird bald erfahren, ob dieser auch so sonderbar ist wie vorher die anderen!
Nach dieser Drohung entfernte er sich raschen Schrittes. Das Gesicht des Scouts hatte während der letzten Minute einen höchst beunruhigten, ja ängstlich gespannten Ausdruck angenommen; jetzt aber veränderte es sich in der Weise, dass in seinen Zügen ein offenbarer, nicht zu beherrschender Hohn zu lesen war. Winnetou flüsterte Old Shatterhand zu: Mein Bruder sehe den Mestizen an!
Ich sehe ihn.
Er verlacht uns!
Leider wird er Veranlassung dazu haben.
Ja. Seine Handbewegung vorhin war also doch ein Zeichen für den Indianer, den du für einen Komantschen hieltest. Wir haben uns nicht geirrt.
Du hast ihn draußen nicht gefunden. Wer weiß, was für eine Teufelei da ausgeheckt worden ist. Desto schärfer müssen wir ihn von jetzt an im Auge behalten. Ich bin überzeugt, dass er ein gefährlicher Mensch ist.
Old Shatterhand hatte Recht, wenn er den Mestizen einen gefährlichen Menschen nannte, und es war draußen wirklich eine Teufelei verabredet worden.
Als der Scout den Schuppen verlassen hatte, war er zunächst vorsichtig aus dem Lichtkreis gewichen, den die brennenden Feuer hinaus ins Freie warfen. Dann gerade senkrecht von dem Shop aus weitergehend, hatte er ungefähr dreihundert Schritte zurückgelegt, bis er eine leise Stimme hörte, die seinen Namen nannte; aber es war nicht der Name, den er hier im Camp trug, sondern ein ganz anderer, denn die Stimme erklang: Komm hierher, Ik Senanda[14]! Hier stehen wir.