Sie war nicht ärmer als bisher, und doch seit gestern, seit diesem bunten schrecklichen Gestern hatte sich riesengroß eine Hoffnung in ihr Herz gedrängt, sie hatte wider Willen an seinen nächtlichen Ritt tausend süße törichte Gedanken geknüpft. Hoffen und Bangen hatte sie bewegt bis zum grauen Morgen.
Welche Torheit! Er war nicht gekommen, um mit liebendem Auge ihren Schatten zu erspähen, er hatte nachsehen wollen, ob sie daheim sei, wie es ehrbaren Mädchen ziemt! O, er war sehr besorgt um die Ehre seines Namens!
Sie preßte die Hände vor die Augen, so fest, daß sie Feuerfunken zu sehen vermeinte, aber mitten darin gaukelte eine zierliche Mädchengestalt. Sie ließ die Arme wieder sinken und schaute durchs Fenster. War sie überhaupt noch bei Sinnen? Durch die roten Flecke, die noch vor ihren Augen tanzten, leuchtete jenseit des Gitters die Purpurlivree des herzoglichen Dieners, und nun stürzte Fräulein Lindenmeyer bereits ins Zimmer: »Klaudinchen! Fräulein Klaudine, die Hoheiten!«
Mit schwankendem Schritt trat Klaudine vor den Spiegel, setzte das weiße Strohhütchen auf, ließ sich von Fräulein Lindenmeyer den blaugefütterten Sonnenschirm in die Hand drücken und ging hinunter. Sie sah kaum, daß auf dem hohen Bock des sehr niedlichen zweisitzigen Wagens der Herzog in eigenster Person die Zügel hielt. Mechanisch beugte sie sich auf die Hand der Herzogin, deren zartes Gesicht vor Wonne über diese Spazierfahrt leuchtete.
»O, danke, danke, meine beste Klaudine, es geht mir vortrefflich!« sagte sie mit ihrer matten Stimme, »wie soll es auch anders sein? Dieses himmlische Wetter, dieser Tannenduft, der Herzog als Wagenlenker und Sie mir zur Seite! Sagen Sie selbst, meine Beste!«
Man war stundenlang in den Wäldern umhergefahren, vor einer einsamen Mühle wurde haltgemacht und die Herzogin hatte von der jungen, ganz bestürzten Müllersfrau ein Glas kühler Milch erbeten, während der Herzog dem Diener die Zügel zuwarf und plaudernd am Wagenschlag lehnte. Den ehrerbietig herzugeeilten Müller hatte er huldvoll nach dem Gange des Geschäfts gefragt und ihn geheißen, der Frau Herzogin die drei Buben vorzustellen, die mit den kleinen Prinzen just in einem Alter standen, und die fürstliche Frau hatte die blonden sonnverbrannten Kinder gefragt, was sie werden wollten, und auf die Antwort: »Soldaten!« jedem für die Sparkasse einen blanken Taler mit dem Bilde des Herzogs geschenkt. Dann war man weitergefahren, heimwärts, denn die Abendsonne begann durch das Tannengezweig zu leuchten.
Die Herzogin tat noch immer tausend Fragen. Gewaltsam mußte Klaudine ihre wild davonflatternden Gedanken zusammennehmen.
»Neuhaus hat Gäste«, sagte jetzt die fürstliche Frau, »dort weht die Standarte unseres Hauses.«
»Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla«, bestätigte Klaudine mit matter Stimme.
»Und Helene?«
»Prinzeß Helene wird ebenfalls erwartet, Hoheit.«
»Leb wohl, du schöne Einsamkeit!« rief die Herzogin.
Die Kutsche näherte sich rasch der niedrigen Mauer des Neuhäuser Parkes, ihr entgegen rollten in scharfem Trabe zwei Landauer, die Kutscher und Diener in großer Livree. Man mußte sich unmittelbar an der Einfahrt begegnen, und in der Tat, der Herzog senkte grüßend die Peitsche, und die Herzogin winkte freundlich mit der Hand zu dem Wagen hinüber, in deren braunseidenem Rücksitz zwei Damen saßen, gegenüber Baron Lothar. Klaudine sah, wie die junge Prinzessin, im koketten Reisemantel aus hellgrauer glänzender Seide, unter dem zierlichen Strohhütchen hervor einen spöttisch verwunderten Blick zu ihr hinüberwarf, wie Prinzeß Thekla die Lorgnette bei der Verneigung, die sie der regierenden Herzogin halb widerwillig zukommen ließ, kalten Auges auf sie richtete und wie Lothar sie kaum zu beachten schien. Nach ein paar Sekunden war man aneinander vorüber.
»Dort tritt die künftige Herrin in das Neuhäuser Schloß«, sagte der Herzog, und seine blitzenden Augen streiften das bleiche Mädchengesicht.
»Du meinst wirklich, Adalbert? Welch Glück für die kleine Verwaiste!«
Er antwortete nicht. Klaudine preßte die Hände um den Griff ihres Sonnenschirmchens, sie zwang sich gewaltsam, ihre tiefe Bewegung nicht zu verraten. Ahnte der Herzog, wer es war, den sie im Herzen trug? Sie konnte nicht hindern, daß eine heiße Röte sich über ihr Antlitz ergoß, und jetzt begegnete sie abermals dem forschenden Auge des Herzogs.
»Sie ist ein verwöhntes kleines Geschöpf«, sagte die Herzogin, die jetzt wie träumerisch in dem Polster des Wagens lehnte, »möge sie Glück bereiten und finden! Unter uns, liebste Klaudine, ich glaube, Geralds Neigung wird von ihr erwidert und von Prinzessin Thekla begünstigt.«
»Ich glaube es auch, Hoheit«, bestätigte Klaudine und erschrak fast über ihre harte Stimme. Es war mit einem Male seltsam kalt und still in ihr geworden.
In Neuhaus waren indessen die fürstlichen Gäste heimisch geworden. Prinzeß Helene hatte das Kind ihrer Schwester, das Frau von Berg den Damen im weißen, überreich mit Spitzen verzierten Kleidchen entgegentrug, geküßt und dann sofort Umschau gehalten. Sie war treppauf und -ab gegangen, hatte Türen geöffnet, in die Zimmer gesehen und gefragt, wo denn ihr Schwager sein Heim habe, um stehenden Fußes auch in dessen Räume einzudringen, die mit ihren Jagdtrophäen und Waffen, mit Bilderschmuck, mit antiken Möbeln und persischen Teppichen das Muster einer eleganten Herrenwohnung boten, und hatte dort, neugierig wie ein Kind, mit ihren schwarzen Beerenaugen alles gemustert. Sie war im Garten gewesen und wieder in das Herrenhaus gekommen und hatte da plötzlich vor einer Tür gestanden, die mit großer energischer Schrift die Worte: »Verbotener Eingang!« zeigte. Sofort hatte Ihre Durchlaucht den Drücker gebogen, und ihr dunkles Köpfchen lugte neugierig in das altvaterische Wohnzimmer. Wie das gemütlich aussah! Wie traulich das Abendrot die altersbraunen Möbel überhauchte! Und wunderbar, dort am offenen Fenster saß ein schlanker Mann und las, sein feines Profil hob sich scharf ab gegen das dunkle Grün der Bäume hinter den Scheiben. Er war so tief in den alten Lederband versunken, daß er gar nicht bemerkte, wie er beobachtet wurde.
Leise machte die kleine Prinzeß die Tür wieder zu und flog die breite eichene Treppe hinauf. Oben warf sie sich in einen Lehnstuhl und wollte sich totlachen über das erschreckte Gesicht der Frau von Berg, die auf ihrem gewöhnlichen Platz eifrig schrieb.
»Was haben Sie uns denn eigentlich immer berichtet von diesem Neuhaus, liebste Berg?« fragte sie. »Da war in Ihren Briefen an Mama von weiter nichts die Rede, als von durchaus nicht standesgemäß, von spießbürgerlichen Gewohnheiten und so weiter. Ich finde es reizend, überaus reizend hier, ich werde nicht einen Augenblick die Langeweile verspüren, die man immer zwischen Ihren Zeilen lesen mußte. Und was wollen Sie denn von der Schwester des Barons? Sie ist eine originelle Dame und sieht stattlich genug aus in ihrem grauen Seidenkleid, und was das Kind betrifft, so waschen Sie der Kleinen nur die dichte Schicht Reispuder ab, die Sie auf das arme Gesichtchen gelegt haben, wahrscheinlich um Mama zu rühren. Augenblicklich gleicht es Ihnen, liebste Berg, wenn Sie nämlich schmachtend zu erscheinen wünschen.«
»Durchlaucht!« rief Frau von Berg beleidigt und wurde rot unter der Schminke.
»Ereifern Sie sich doch nicht«, fuhr die Prinzessin fort, »geben Sie lieber derartige Versuche auf! Ich finde es nun einmal reizend hier draußen und werde das meinem Schwager sagen.«
»Da werden Durchlaucht völlig seinen Geschmack treffen.«
»Oh, was Sie meinen, Beste, das weiß ich«, erwiderte die Prinzessin, »aber das ist lächerlich, einfach lächerlich. Heraus mit der Sprache, liebstes Bergchen, wenn Sie positives wissen«, sagte sie siegesgewiß. »Sie begreifen doch, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer die Mutter des Kindes« sie wies nach der Nebentür »wird.«
»Da werden Durchlaucht völlig seinen Geschmack treffen.«
»Oh, was Sie meinen, Beste, das weiß ich«, erwiderte die Prinzessin, »aber das ist lächerlich, einfach lächerlich. Heraus mit der Sprache, liebstes Bergchen, wenn Sie positives wissen«, sagte sie siegesgewiß. »Sie begreifen doch, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer die Mutter des Kindes« sie wies nach der Nebentür »wird.«
»Durchlaucht glauben mir ja doch nicht«, schmollte die Dame und sah vorüber an den funkelnden schwarzen Mädchenaugen.
»Mitunter nicht! Ich weiß indessen ganz genau Wahrheit und Dichtung bei Ihnen zu unterscheiden.«
»Nun, so lasse ich Ihnen die Wahl, Prinzessin«, begann Frau von Berg eifrig, »ob Sie glauben wollen oder nicht. Er «
»Es ist nicht wahr!«
»Aber, Durchlaucht, ich sprach noch gar nicht!«
»Alice, sagen Sie nichts, es ist nicht so«, rief die Prinzessin fast drohend. »Er hat sie niemals angesehen, er ist ihr geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie wollten etwas anderes erzählen.«
»Gut, wie Durchlaucht befehlen. Sie «
»Sie ist in anderen Ketten und Banden, ich habe es gesehen«, rief Prinzeß Helene. »Der Herzog «
»Aber ich habe ja noch gar nichts gesagt«, unterbrach die Berg. »Wenn Durchlaucht so gut unterichtet sind, was soll ich dann noch sagen?«
»Sprechen Sie, Alice«, bat die Prinzessin jetzt, »ist es denn möglich? Mama ist außer sich darüber, ich sehe es ihr an, sie redet kein Wort zu mir, seit wir den Herzog mit ihr im Wagen gesehen haben, und ihre Nase ist spitz, das bedeutet Sturm. Sie wissen es, Alice.«
»Aber die Herzogin fuhr mit, Prinzessin.«
»Ach Gott«, rief diese und schlug die kleinen Hände zusammen, »die arme gute Liesel! Sie schwebt, wie gewöhnlich, in höheren Regionen und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich wette, Hoheit, meine Cousine, schreibt wieder an einem Trauerspiel, das dann im nächsten Winter zu unser aller Erbauung aufgeführt werden wird. Wissen Sie noch, Alice, vorigen Winter? Aber Sie waren ja in Nizza. Schauerlich! Schauerlich! Drei Tote waren zuletzt auf der Bühne, und ich hörte, wie Graf Windeck zu der Moorsleben sagte: »Passen Sie auf, Gnädigste, jetzt sticht gleich noch der Souffleur den Lampenputzer tot.«
Sie lachte übermütig, die kleine Prinzessin, wurde aber sofort wieder ernsthaft. »Ich bin ihr bei alledem doch sehr gut, Alice, sie ist liebenswürdig, trotz ihrer Romanideen. Arme, arme Liesel! Hätte sie nicht heute neben ihr gesessen, ich wäre aus dem Wagen gesprungen und ihr um den Hals gefallen. Sagen Sie, Alice, wie kann man einen solchen Eiszapfen, wie diese Klaudine, zu näherem Verkehr um sich haben?«
Die Tischglocke erscholl in diesem Augenblick und Prinzeß Helene ließ sich noch in aller Eile die Stirnlöckchen zurecht machen. Auf der teppichbelegten Treppe schritt eben Prinzessin Thekla am Arme des Hausherrn hinunter, als sie mit Frau von Berg und der Hofdame nachfolgte.
»Übrigens, Alice«, fragte die junge Prinzeß leise, »was ist das für ein Herr, der in dem Zimmer wohnt, wo angeschrieben steht »Verbotener Eingang«?«
»Ein Herr, Durchlaucht?«
»Nun ja, ja!«
»Durchlaucht müssen einen Geist gesehen haben.«
»Doch nicht. Ich werde mich bei Fräulein von Gerold erkundigen.« Sie tat es auch sofort, man hatte kaum Platz genommen.
»Das war mein Vetter Joachim, Durchlaucht«, antwortete Beate, und die Suppenkelle schwankte ein klein wenig in ihrer Hand.