Weiter war keins von den beiden gegangen; aber daß sie doch ganz im geheimen daran dachte, ging deutlich aus einigen Fragen hervor, wie z. B., ob es wahr sei, daß die Negerkinder Schnecken äßen? Das behagte ihr nicht.
Und inmitten dieses Halbdunkels – ihr brauner und sein blonder Kopf dicht zusammengesteckt über atembeklemmenden Abenteuern – hatten sie unter Palmen gesessen; es wimmelte von kleinen Schwarzen, und alle waren sie artig und bekehrt, und zahme junge Tiger gab es da, die sich dicht vor ihren Füßen im Sand wälzten; gutmütige Affen bedienten sie, Elefanten trugen sie behutsam, die Bäume hingen voll der Nahrung, deren sie bedurften.
Und jetzt kam Ole, um dies Eden zum letztenmal zu sehen und Abschied davon zu nehmen.
Eben hatte er sich aufgerichtet, um über den Stein zu klettern, als ihm einfiel, heut sei Samstag. Samstag von elf Uhr ab hatte sie frei (sie hatte Privatunterricht), und da setzte sie sich oft während der großen Pause der Knaben hinter die Holzstapel.
Wenn sie jetzt eben dort säße! Wenn sie alles gehört hätte! Schnell hinauf auf den Stein, und richtig – da saß sie unten auf dem Brett und sah zu ihm hinauf.
Ihr bloßer Anblick und mehr noch die Art, wie sie seinem Blick begegnete, ließ ihn von neuem in helle Tränen ausbrechen. "Ich – will – heim!" schluchzte er, "und nie – nie wiederkommen!" Und er ließ sich zu ihr hinuntergleiten. Sofort nahm sie sich seiner an, gab ihm schleunigst ihr Taschentuch, damit er es sich vor den Mund halte, um sich durch sein Weinen nicht zu verraten. Sie kannte den Schulhof, und sie wußte, man suche ihn jetzt auf dem Hof. Und er gehorchte, wie immer, ihrer überlegenen Führung in den Dingen, die zur guten Erziehung gehören; nur daß er glaubte, es handle sich einmal wieder um das ewige Geschnäuze, und so schnäuzte er sich denn und weinte, und weinte und schnäuzte sich. Da packte sie ihn hurtig mit ihrer derben Kleinmädelfaust im Nacken, mit der andern umspannte sie mit festem Griff seine Hände mitsamt dem Taschentuch und preßte ihm das in den Mund; während sie gleichzeitig ihren dunkelhaarigen Kopf unheilverkündend dicht vor seinem Gesicht schüttelte. Jetzt begriff er! Es war auch die höchste Zeit; denn schon rief man auf dem Schulhof seinen Namen, wieder und wieder, in Zwischenräumen und aus verschiedenen Richtungen. Es fiel ihm entsetzlich schwer, das Weinen zu unterdrücken, so daß er am ganzen Körper zitterte; aber er hielt es zurück. Hielt es zurück, bis sie den Kameraden, den man nach ihm ausgeschickt hatte, wieder hinaufstürmen hörten. "Ich – will – heim!" fing er dann gleich wieder an und heulte von neuem drauflos – er konnte nicht anders. Dann gab er ihr das Taschentuch zurück, nickte, stand auf und zog die Planken in des Nachbars Bretterwand weg – immerzu laut schluchzend und in tiefstem Entsetzen. Kaum waren die Planken weg, so war er auch im Loch; das auf der Schulbank blank gescheuerte Hinterteil und die glänzenden, eisenbeschlagenen Absätze schoben sich weiter und weiter hinein, bis sie verschwanden. Auf der andern Seite stand er auf, drängelte sich zwischen der Bretterwand und einem Holzhaufen durch, bis zu ein paar alten Balken, die da lagen und vermorschten; von dort eilte er zur Hintertür, und erst, als er draußen, auf freiem Grund und Boden, in einem engen Gäßchen stand, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Josefine Lebewohl zu sagen; ja, daß er sich nicht einmal bei ihr bedankt hatte. Auch das noch, zu all dem andern Unglück! Nun erst recht trieb es ihn im Galopp zur Stadt hinaus, und er machte nicht eher halt, als bis er auf Umwegen die Landstraße erreicht hatte. Der gehörte so gewissermaßen zu seinen Schildknappen, der alte Strandweg.
Josefine stand eine Weile da und blickte auf die Stelle, wo die Absatzeisen verschwunden waren; aber nicht lange. Sie sprang auf den Stein, glitt an der Wand wieder herab, schob die Bretter beiseite, kroch hindurch und schob sie vorsorglich hinter sich zu. Gleich darauf erschien sie ohne Hut in der Apotheke und fragte nach ihrem Bruder; erst in der Apotheke selbst, wo er sich am liebsten aufhielt; aber da war er nicht; er hatte nicht einmal seine Schulbücher abgegeben. Dann durchsuchte sie oben alle Zimmer; dort war er ebenfalls nicht; aber vom Fenster aus sah sie den großen fremden Dampfer, umringt von zehn, zwölf Booten; natürlich, da war er! Also rasch hinunter zur Brücke. Sie machte ihr eigenes kleines weißgestrichenes Boot los und schoß hinaus.
Sie ruderte, daß ihr der Schweiß von der Stirn lief, ruderte und blickte sich um, bis sie das schwere Wrack erreicht hatte, das grüne Ungeheuer, das dort lag und unter den Pumpen stöhnte. Weit draußen sah sie Edvard, die Schulbücher unterm Arm, oben auf der Kommandobrücke stehen, im Gespräch mit seinem Freund Rojert Mo.
Sobald sie nahe genug war, rief sie seinen Namen. Er und sämtliche Umstehenden hörten es. Die letzteren sahen ein braunhaariges Mädel, die Ruder in der Hand, glühend rot vor Anstrengung, aufrecht dastehen und nach der Kommandobrücke starren; sie besannen sich einen Augenblick, was das wohl bedeuten könne, und vergaßen es dann wieder; Edvard aber gab es einen Stich: da war irgend etwas Unangenehmes geschehen; und wie der Wind war er von der Kommandobrücke herunter, auf Deck, darüber weg, an der andern Seite des Dampfers hinab – und über die andern Boote in ihres geturnt, das er gleichzeitig abstieß. "Was ist los?" Die Bücher legte er hinter sich ins Boot, nahm ihr die Ruder aus der Hand und setzte sich. "Was ist los?"
Rot und atemlos, mit fliegenden Haaren, stand sie da und sah ihn an, während er das Boot drehte. Dann stieg sie über das mittlere Sitzbrett, machte das zweite paar Ruder los und setzte sich ihm gegenüber auf die hinterste Ruderbank. Er hatte keine Lust, ein drittes Mal zu fragen, und ruderte drauflos; und nun fing sie, die Ruder über Wasser haltend, an:
"Was hast Du Ole Tuft getan?" Er wurde blaß und rot; auch er hielt jetzt die Ruder hoch.
"Es ist aus mit ihm in der Schule. Er ist nach Hause und kommt nicht wieder."
"Ach was, Du lügst!" Aber seine eigene Stimme widersprach ihm. Er ahnte, – sie redete die Wahrheit. Er schlug aus Leibeskräften die Ruder ins Wasser und ruderte, als wolle er hinter ihm drein.
"Jawohl, es ist schon das beste, Du ruderst drauflos!" Sie selber fing an, nachzulassen. "Das beste, Du rennst ihm gleich nach, und wenn's bis nach Store-Tuft ist! Sonst geht Dir's schlecht! Beim Vater und auch in der Schule! So ein Jammerkerl, wie Du bist!" – "Halt's Maul, Du!" – "Wart' Du nur! Wenn Du ihm nicht augenblicklich nachsetzt und ihn wieder mit nach Hause bringst, sag' ich's dem Vater und dem Rektor, – verlaß Dich drauf!"
"Bist selber ein Jammerkerl, und eine Petze bist Du, daß Du's nur weißt!" – "Hättest bloß hören sollen, wie Anders Hegge und die ganze Schule sich aufführten; alle haben sie Ole ausgelacht, alle, alle – und wie der arme Bengel geweint hat, als würde er ausgepeitscht – und dann schnurstracks heimrannte! Pfui, schäm' Dich! Wenn Du ihn nicht wieder mitbringst, so wirst Du mal was erleben!" – "Schafskopf! Siehst Du denn nicht, daß ich schon rudere, was ich nur kann!" – Seine Nägel wurden weiß, sein Gesicht quoll auf, er beugte sich jedesmal fast bis auf den Boden, um möglichst weit auszuholen. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, setzte sie sich auf die Bank dicht vor seiner und legte sich gleichfalls tüchtig in die Stangen.
Als er an der Brücke aufstand, um anzulegen, sagte er: "Heut morgen hab' ich nicht mehr frühstücken können, und jetzt krieg' ich auch kein Mittagessen. Hast Du Geld bei Dir, daß ich mir ein paar Brezeln kaufen kann?" – "Ja, ein paar Pfennige hab' ich", und sie zog die Ruder ein und holte das Geld heraus. "Nimm meine Bücher!" rief er und sprang davon. Bald darauf war auch er draußen auf der Landstraße.
3
Der Tag war nicht ganz klar gewesen; eine Unruhe war in der Luft, die Wolken jagten in anderer Richtung als der leichte Südwind. Es war mild und taute wieder. Die Wege waren jämmerlich, voll Schneeschlamm und Schmutz, besonders hier, in der Nähe der Stadt, war alles zu einem Brei zusammengetrampelt und -getreten.
Der Junge war noch nicht zehn Minuten unterwegs, als seine etwas dünnen Stiefel auch schon von Wasser vollgesogen waren. Na, das machte nichts! Schlimmer war es mit der letzten Brezel; denn satt war er nicht, nicht im entferntesten! Aber auch das machte nichts. Er würde Ole schon bald einholen; er war schneller zu Fuß, war beweglicher, und er legte ganz gehörig los. Wenn er ihn nur erst eingeholt hatte – in Ordnung bringen würde er die Sache schon, daran zweifelte er keinen Augenblick. Ole war verträglich, und er, Edvard, würde bei den Jungens für ihn eintreten; das zum mindesten war er ihm schuldig. Und ihm selber machte es überdies Spaß; er würde schon noch ein paar von den andern auf seine Seite bringen, und dann sollte es eine Schlacht setzen!
Doch als er eine ganze Viertelmeile gegangen war, ohne in diesem Matsch auch nur eine Spur von Oles Stiefeln, geschweige denn von ihm selber zu entdecken, als er sich gar eine halbe Meile vorwärts geschleppt hatte, durch die scheußlichste Unwegsamkeit, mit patschnassen Füßen, abwechselnd schweißtriefend und eiskalt, dann wieder halbtrocken und wieder schweißtriefend – dazu drohte Regen und Sturm, und die Landschaft war schauerlich einsam mit ihren langen öden Bergrücken und den dazwischenliegenden Wäldern – da sank sein Mut bedeutend.
Und dann – sonderbar! Nach der ersten Viertelmeile begegnete er keiner Menschenseele mehr. Spuren sah er genug auf dem Wege, von Pferden und Menschen und Hunden; alle liefen sie in derselben Richtung wie er, und die meisten waren frisch. Aber keine Menschenseele war zu erblicken, nicht einmal in den Gehöften; keinen Hund hörte er bellen, keinen Schornstein sah er rauchen; wie ausgestorben war alles. Eine leere Bucht nach der andern; vorspringende Bergrücken, durch Geröll oder Erdrutsche gebildet, trennten sie; immer wieder eine Bucht, und an jeder Bucht ein Gehöft oder mehrere, und ein Fluß oder ein Bach; aber nirgends ein Mensch. Ach, wie oft war der Junge schon einen kahlen Hang hinangeklettert und oben weitergewandert, bis er die nächste Senkung überschauen konnte, ohne Ole auf der Landstraße zu erblicken, ohne überhaupt eine Menschenseele zu erblicken! Er merkte wohl, er würde, ausgehungert und müde, bis hinaus nach Store-Tuft traben müssen. Das war fast eine Meile. Dann blieb er zu lange aus, der Vater würde es erfahren, es setzte dann doch Hausarrest und Verhör und Schelte und Schläge, vielleicht kam's auch gar noch vor den Rektor, und die ganze Geschichte ging noch einmal von vorn los … Er war dem Weinen nahe. Dieser verdammte Anders Hegge mit seinen lüsternen Fischaugen und seinem fetten Lächeln bei allem, was ihm behagte! Und die lauernde Freundlichkeit, das kitzliche Lachen, das Geklatsche – o pfui! So ein Scheusal! Und dafür mußte er hier mit schmerzenden Füßen, müde und verzweifelt, durch den Schmutz stapfen! Das also hatte seine entsetzliche Angst gestern abend bedeutet! Das war's gewesen!
Ach was, zum Teufel mit dem Geflenne und der Kopfhängerei! Einmal mußt du ja hinkommen, und Schläge hast du schon mehr als einmal gekriegt! Trallalla! Und er fing an, ein lustiges spanisches Lied zu singen, sang Vers für Vers – kam außer Atem – mußte langsam gehen, und erschrak doch, als er seine eigene Stimme nicht mehr hörte. Also ein neues Lied – und wieder einmal hinauf – den ganzen langen Steinhang.
Auch da kein Mensch, bloß Wagenspuren und Fußspuren von Erwachsenen und Kindern und Pferden und Hunden aus den Gehöften drunten. Alle vorwärts laufend. Was war denn los? Eine Feuersbrunst? Auktion? Dazu hätten sie nicht das Fuhrwerk mitgenommen. Vielleicht irgendwo ein Bergsturz? Oder ein großes Schiffsunglück gestern? Ach, ihm konnte das eigentlich gleich sein! Gerade, als er über den nächsten Bergrücken klettern wollte, der eine lange Nase in den Fjord hinausstreckte, sah er zum erstenmal Oles Spuren; da war er am Wegrand entlang gegangen; er kannte die eisenbeschlagenen Absätze, ebenso die Holzflecken unter jedem Fuß. Die Spuren waren ganz frisch; jetzt konnte Ole nicht mehr weit sein! Das gab ihm neue Kraft. Er lief wacker drauflos.
Ein hoher Tannenwald umfing ihn; alles war still. Als er beim Steigen mit Singen aufhören mußte, wurde ihm ganz unheimlich zumute. Je höher er kam, desto dichter wurde der Wald; der Schnee lag fester, Steine und Heidekrautbüschel guckten neugierig daraus hervor wie Tiere. Und dann raschelte es hier und knisterte es dort, und irgendwo schrie es; ein großer aufgescheuchter Vogel flog mit entsetzlichem Flügelschlag auf; der Junge suchte schweißtriefend nach Oles Fußtapfen, um sie nicht zu verlieren; die Angst von gestern war plötzlich wieder über ihm. Wenn er's doch über sich brachte, recht draufloszurennen! Wenn der Wald doch ein Ende nehmen wollte! Während der unverantwortlich langen Stille nach dem Auffliegen des Vogels hatte er schließlich das Gefühl: wenn jetzt bloß noch das winzigste Bißchen dazu komme, so würde er verrückt! Und der Hohlweg, durch den er mußte! Schon ganz von weitem starrte er hinein, zwischen die hohen, schwarzen Wände; als ob sie über ihm zusammenklappen wollten – sahen sie aus; von oben hingen ein paar unheimliche Bäume darüber und spähten lauernd hernieder. Als er endlich drin war, kam er sich wie die allerwinzigste kleine Ameise im Walde vor: wenn sie bloß stillständen, bis er vorüber war – wenn bloß keiner sich auf einmal von oben herunterbeugte und ihn beim Kragen packte, oder dicht vor ihm oder dicht hinter ihm sich fallen ließ – oder ihn anwehte … Er ging mit starren Augen – wie ein Nachtwandler; die Kiefernwurzeln zogen sich krumm und verwittert über den lehmigen Pfad hin … und alle lebten sie … Aber nein … Er tat, als merke er nichts …
Ganz fern, hoch oben in der Luft, flog ein Vogel nach der Stadt, aus der er kam … Ach! Wer auf seinem Rücken säße! So deutlich sah er die Stadt, die Schiffe im Hafen, hörte die frohen Weisen, das helle Ankerrasseln … das Dröhnen an den Brücken … den herzensfrohen Lärm und Spektakel … die Kommandorufe … Nanu … da hörte er ja wirklich Kommandorufe … Und eine Schiffspfeife … und noch eine … eine ganz derbe … Und Stimmen! … Jawohl … Stimmen … und dazu Pferdegewieher! Und Hundegekläff! Und wieder Stimmen und Stimmen! Er war aus dem Hohlweg heraus, – ganz kurz war der gewesen! – und zwischen den Bäumen hindurch schimmerte die See … und Schiffe … Was war denn das? War er denn wieder in der Stadt? War er im Ring herumgelaufen? Er war doch immer am Strand entlang gegangen! Er fing an zu rennen, in Sätzen – — Freilich, jetzt kannte er sich wieder aus! Ja, wahrhaftig, er war immer nur geradaus gelaufen! Und da öffnete sich der Wald … und die Bucht … die hatte er doch schon einmal gesehen? Und auch die Inseln erkannte er wieder … Er war auf dem richtigen Weg … nun war's nicht mehr weit bis Store-Tuft! … Aber was taten denn diese Boote da? Was bedeutete dies gleichmäßige, ununterbrochene Gelärm? Ein Fischzug! Hurra! Ein Fischzug! Mitten in einen Fischzug war er hineingeraten! Hurra! Hurra! Vorbei aller Hunger, alle Müdigkeit, alle Furcht! In langen Sprüngen setzte der Junge den Hügel hinunter.
Eins der Netze war eben an Land gezogen, eins stand ausgespannt im Wasser, eins wurde eben eingeholt. Von allen Seiten strömte es herbei. Aber es war Samstagabend, es hieß warten, bis zum Sonntagabend, um die unzähligen gefangenen Fische auszunehmen. Auf den ersten Blick hatte er das begriffen.