Der ganze Strand war voll Menschen, bis hinauf zur Straße, zu beiden Seiten, Leute überall, immer mehr Leute. Wagen und Schlitten durcheinander standen da, mit und ohne Fässer und Tonnen, Pferde vor- oder ausgespannt – Hunde zu Haufen; überall junges Volk, und Lachen und Lärm … Und draußen, in der Bucht, Boote um die Netze … die Netze, die eingeholt werden mußten, und ein Geschrei und ein Spektakel, und hoch in den Lüften ein Vogelschwarm, naseweise, kreischend, flügelflatternd – bis weit hinaus.
Der Himmel ward dunkler, der Dampferqualm machte die Luft noch düsterer und drohender, die nackten Inseln paßten zu dem heraufziehenden Unwetter: sie sahen aus, als seien sie eben erst emporgestiegen; die bewaldete Klippe weit draußen ragte geheimnisvoll, einsam im Regenschauer empor; die Dampfer rauchten und kreischten und fauchten und pfiffen um die Wette um sie her; die reinen Konkurrenten.
Die Männer stampften in Flößerstiefeln umher, Ölmäntel über ihrem gewöhnlichen Anzug; andere trugen – mehr nach Bauernart – Frieswams und Pelzmütze. Die Weiber, dicke Tücher über der gewohnten Kleidung oder in Männerröcke eingemummt, arbeiteten mit den Männern um die Wette beim Ausnehmen der Fische; der gewohnte stille Verkehrston war wie ausgewechselt.
Schon fielen vereinzelte schwere Regentropfen, die dichter und dichter wurden. Fast alle Gesichter, in die Edvard sah, waren durch und durch naß. Er wurde ordentlich begafft: ein schmächtiges Stadtjüngelchen, – in solch einem Treiben – leicht gekleidet – mit triefendem Gesicht – außer Atem, die dünne Pelzmütze platt an den Kopf angeklebt!
Aber wen sah er da vor sich? War das nicht Ingebret Syvertsen, der lange, schwarze Kerl, der mit Vater Kallem Geschäfte machte? Dort stand er nun und feilschte – lang und hager – in Öltuch gewickelt von Kopf bis zu Füßen. Der war tüchtig mit dabei gewesen! Wie Silberschimmer lag noch der Gischt über ihm! "Grüß Gott, Ingebret!" rief der Knabe froh. Der lange Kerl mit dem nassen Gesicht unter dem Südwester, einen großen herabhängenden Tropfen an der Nase, mit seinem dünnen schwarzen Bart und den drei Zahnlücken im Oberkiefer, erkannte ihn auch sofort und lachte; dann rief er: "Dein Vater ist auch unterwegs, Jung'! Zu Pferde!" – Irgend jemand sprach in diesem Augenblick Ingebret an; er drehte sich um, wurde ärgerlich und verwickelte sich in viele Worte; und als er sich wieder dem Jungen zuwandte, sah er ihn schon weit draußen, hinter dem ganzen Fischertreiben, auf der Straße.
Edvard war in hellem Schreck davongelaufen … und erst jetzt, auf der Straße, fiel's ihm ein – er lief ja dem Vater geradenwegs in die Arme. Ob er überhaupt Store-Tuft noch erreichen konnte, bevor er den Vater traf?
Aber – was sollte er tun? Gesehen hatten sie ihn, alle diese Menschen; und sie hatten ihn derart angestarrt, – sie würden's schon herauskriegen, wer er war! Und wenn der Vater vorüberkam, würde er's auch erfahren! Wozu also noch lange durchbrennen! Haue jetzt gleich – oder Haue später – das kam auf eins heraus. Fast wollte er wieder anfangen zu singen. Denn ärger als es war, konnte es doch nicht werden. Und wirklich – er setzte auch ein, und zwar die Marseillaise auf Französisch – die paßte just für einen, den Schläge erwarteten …! Hurra! Aber er war noch nicht mit dem ersten Vers zu Ende, als ihm auch schon das Herz in die Hosen sank. Die Stimme versagte, und auch der Takt, und alles hatte auf einmal eine ganz andere Farbe. Ach, und wie sauer ihm das Gehen wurde! Es regnete jetzt tüchtig. Der Gesang wurde zu abgerissenen Strophen, bis er ganz aufhörte. Die Gedanken des Knaben hatten sich verfangen in etwas, das er kürzlich in der Zeitung gelesen hatte: die Überschwemmung einer großen Kohlengrube in England. Die Menschen waren davongestürzt, so schnell sie nur konnten, und die Pferde hinter den Menschen her; dort unten wußten sie sich nicht selber zu helfen. Die armen Tiere! Ein Junge hatte sich retten können, und der erzählte, wie ein Pferd hinter ihm hergekeucht war; der Junge war hinaufgeklettert, das Pferd konnte nicht mit … Edvard sah das Tier ganz deutlich vor sich, den Kopf, die schönen glänzenden Augen, er hörte das Schnauben und Wiehern, und jedesmal machte es ihn ganz krank. In solchem Entsetzen sterben – das war etwas! Und all das sollte am jüngsten Tag wieder auferstehen! Was da wohl alles aus den Eingeweiden der Gruben und Eingeweiden der Erde hervorkommen würde! Weshalb sollten die Tiere nicht auch mit dabei sein? Sicher traten sie auch vor und wieherten und klagten die Menschen an! Du großer Gott, mußten das Anklagen werden! Und so viele – wenn man bedachte – von der Erschaffung der Welt an! Und wo waren sie alle zu finden? Auf der Erde und unter der Erde und – und die Wesen, die im Meer lagen, auf dem Grunde der See? Und die Geschöpfe, die wieder unter ihnen lagen? Denn an vielen Stellen war ja Land gewesen, wo jetzt See war. Ach ja!
Wie hungrig er war! Und nun fror ihn; er konnte nicht länger schnell gehen, und er war durch und durch naß.
Viel Ursache, sich nach dem Ziel seiner Wanderung zu sehnen, hatte er ja auch gerade nicht. Er kannte die neue Reitpeitsche nur zu gut; die alte hatte er selber aus der Welt spediert; aber hätte er gewußt, daß die neue noch schlimmer ausfallen würde – er hätte die alte vermutlich noch ein paar Jahre länger leben lassen. Au! Jetzt kribbelte es ihn auch noch unter den Nägeln, und seine Finger wurden steif. Und die Füße! An die durfte er gar nicht erst denken; dann würden sie nämlich noch schlimmer; horch, wie es in den Stiefeln klatschte! Er machte sich den Spaß, die Füße kreuzweise voreinander zu setzen; er wechselte von rechts nach links und von links nach rechts; aber es machte ihn nur müde. Immer zäher und zäher ging's, immer mühseliger wurde es; jetzt kam wieder eine Steigung. Himmel, war das nicht die letzte? Lag nicht Store-Tuft in der nächsten Senkung? Dicht am Fuß der Anhöhe? Natürlich, das war die Tuft-Niederung! Vielleicht kam er doch noch vor dem Vater hin? Und wenn es auch nur ein Aufschub war – es war doch immerhin etwas! Donnerwetter! Es war schon der Mühe wert, sich zu beeilen! In den Jungen kam neues Leben. Frisch drauflos!
Übrigens – der Vater war nicht bloß streng! Er war auch gut. Besonders, wenn Josefine zu Edvard hielt und ein gutes Wort für ihn einlegte. Und das würde sie schon, wenn Ole wiederkam; dann hielt sie sicher zu ihm. Sie würden versuchen, auch den Apotheker zu gewinnen. Er war furchtbar nett, der Apotheker, und es war auf alle Fälle gut, Hilfstruppen zu haben, so viel wie möglich. Herrgott, gab es denn nicht noch mehr …?
Da tauchte der rote Pferdekopf über der Hügellinie auf! Die großen Strohschuhe, die der Vater im Winter als Steigbügel benützte, standen zu beiden Seiten des Fuchsen ab wie die Tatzen eines Raubtieres. Der Junge wurde zu Stein und stand still.
"Rauen", der Fuchs, glotzte aus dem schweren, spanischen Sattelzeug heraus Edvard an; er traute seinen eigenen klugen Augen nicht. Dem Vater erging es augenscheinlich ebenso; denn sein runder Kopf in der grauen Wollmütze streckte sich weiter und weiter über den Pferdehals vor, bis er sich mit beiden Händen auf den Sattelknopf stützen mußte. Dieser pudelnasse Bursche mit dem Pelzklex auf dem Kopf – der dort, blaß und erschrocken, wie ein Gespenst mitten auf der Straße stand – war das der Junge, der um diese Zeit zu Hause sitzen und seine Aufgaben machen sollte, bevor er sich überhaupt rühren durfte? Am Samstag nachmittag? In solchem Wetter, bei solchem Schmutz, und so leicht gekleidet – hier draußen auf dem Weg nach Store-Tuft? Und das ohne Erlaubnis? "Hölle und Teufel, was treibst Du hier?"
Das Pferd blieb stehen; der warme Atem füllte die Luft rings um den Jungen und hüllte ihn in Nebel und einen unangenehmen Schweißgeruch. Edvard vermochte sich nicht zu rühren, wagte nicht zu antworten. Er starrte bloß durch den Nebel blöd und dumm zum Vater auf; zuletzt wußte er gar nichts mehr von sich.
Unverzüglich stieg der Vater ab, und gleich darauf stand er, die Zügel um den linken Arm, die Peitsche in der rechten Hand, vor ihm. "Was gibts, he? Woher kommst Du? Hölle und Teufel, wirst Du wohl antworten!"
Edvard glitt mechanisch weiter und weiter zurück; der Vater ihm nach; und ebenso mechanisch hob der Junge den rechten Arm, um das Gesicht zu schützen; den linken hielt er abwehrend vor sich ausgestreckt. "Wo willst Du hin?" – "Zu Ole Tuft." – "Was willst Du da? He? Ist Ole Tuft zu Hause?" – "Ja." – "Was willst Du bei ihm?" – "Ich will – ich will – —" – "He?" – "– ihn um Verzeihung bitten." – "Um Verzeihung? Nanu? Na? He?" – Und die Peitsche fuhr in die Höhe. Der Junge beeilte sich: "Er will nicht mehr in die Schule kommen." – "So? Eklig gegen ihn gewesen? He? Und Du an der Spitze? He?" – "Ja." – "Also Deine Schuld, was? He?" Er kreischte. – "Ich hab' 'rausgekriegt —" Der Junge stockte. – "Was?" – "– — daß er … daß er …" Er fing an zu weinen. "– He?" – "… daß er Kranke pflegt." – "Und hast's weitergesagt, he? Gepetzt? He?" Edvard getraute sich nicht zu antworten, und nun begann die Peitsche eklig zu werden. Beide Arme des Jungen gingen im Takt mit der Peitsche auf und nieder, unsicher, wohin sie zielte. Er wich immer weiter zurück. "Stillgestanden!", schnarrte es. Statt dessen sprang der Junge mit einem Satz bis unmittelbar an den Rand des Straßengrabens. Zornig hob der Vater die Peitsche; das Pferd hinter ihm erhielt, ohne daß er es wußte, einen tüchtigen Hieb und zerrte so heftig, daß der Vater fast umgerissen wurde. Edvard vermochte beim besten Willen der überwältigenden Komik dieser erlösenden Unterbrechung nicht zu widerstehen; er fing schallend zu lachen an, erschrak aber gleich, als er es selber hörte, so unsinnig, daß er über den Graben wegsprang und in den Wald hineinrannte. Sobald er dem Vater den Rücken gedreht hatte, konnte er sich nicht mehr halten, er mußte wieder lachen, und wußte das durch nichts Besseres zu verdecken als durch ein lautes Geheul.
Die Verachtung des Vaters für den Jungen war grenzenlos. Er selber wurde dadurch ganz kaltblütig, brachte das Pferd zum Stehen und schwang sich in den Sattel. "Komm!" sagte er ruhig und wies mit der Peitsche nach Store-Tuft. Weitere Abrechnung folgt, wenn wir dort sind! dachte der Junge.
Er gehorchte selbstverständlich und kam eiligst – bis auf einen gemessenen Abstand vom Pferd. – Und diesen Abstand hielt er auch unverändert ein. Das Pferd schritt schnell aus, so daß es nicht ganz leicht war.
Und nun jagte der graue Mann auf dem roten Pferd den Sohn erbarmungslos vor sich her durch den Schneeschlamm, trotzdem die Füße des Jungen wundgelaufen waren – man sah es an der Art, wie er sie setzte; trotzdem er erfrorene Hände hatte – er steckte sie ab und zu in den Mund; trotzdem er bis auf die Haut durchnäßt sein mußte – die Pelzmütze klebte am Kopf wie ein Waschlappen! Der graue Mann selber saß trocken, in warmen, wasserdichten Kleidern, da, in der Hand die Peitsche, mitten im Gesicht den großen Riecher, daneben zwei funkelnde Augen. Niemand, der den Aufzug gesehen, hätte ahnen können, daß dieser gestrenge Herr keinen höheren Wunsch hegte, als den Jungen, den er da so wütend vor sich hertrieb, lieben zu können.
Aber um einen Menschen lieben zu können – dazu gehört, daß er so ist, wie wir wolle – nicht wahr? Und wenn nun das der Junge nicht wollte? Und wenn Kallem an Mißgeschick nicht gewöhnt war? Das erste ernstliche Mißgeschick, das ihn betroffen hatte, war der Tod seiner Frau gewesen, und ganz kurze Zeit darauf kam das mit dem Jungen. Bis dahin hatten sie alle im Ausland gelebt, Kallem in Frieden mit seiner Frau, seinem Geschäft und seinem Sport und seinen stillen Büchern – er war nämlich ein eifriger Leser; nichts hatte ihn je gestört oder geplagt. Das Geschäft besorgte der Bruder seiner Frau; es ging ausgezeichnet; das Haus besorgte seine Frau, ebenfalls ausgezeichnet. Alles ging ohne Störung oder Sorge, genau so, wie es gehen sollte – bis zum Tode der Frau.
Aber dann!
Weder er noch andere konnten anfänglich die unerwartete Veränderung begreifen, die mit ihm vorging. Manche meinten, der Verlust seiner Frau habe ihn verrückt gemacht; er selber meinte, das spanische Klima sei zu warm für ihn; er müsse fort, er müsse nach Hause. Der spanische Geschäftsführer stimmte sofort bei; es war nämlich eine ganz ausgezeichnete Spekulation, das Hauptgeschäft nach Norwegen zu verlegen und in Spanien eine Filiale zu unterhalten. So brachen sie denn auf – vor nunmehr etwa einem Jahr.
Aber der Junge, der schon in Spanien schuld war, daß der Vater das erstemal sich vergaß – übrigens auch ein zweites, und unglücklicherweise ein drittes, viertes, fünftes, sechstes Mal – immer war's der Junge!– brachte ihn leider auch in Norwegen aus dem Gleichgewicht. Im warmen wie im kalten Klima – der Junge war immer gleich eklig!
Bald kamen auch aus der Schule Klagen über ihn; dann aus der Apotheke, wo sie bei Kallems altem Freund zur Miete wohnten; dann von den Leuten, von den Nachbarn, von den Landungsbrücken. Vielleicht mußten auch andere Eltern Klagen anhören über ihre Jungens; vielleicht waren die Leute in dieser Gegend überhaupt schnell mit Klagen bei der Hand; davon wußte Kallem nichts; er war eine Einsiedlernatur. Soviel aber wußte er: sein Sohn war der begabteste Junge in der Schule; das versicherte ihn ein Lehrer nach dem andern; er wußte ferner, daß es dem Sohn auch im übrigen an nichts fehle, weder an Gemüt noch an Willen; nur – er war so gleichgültig und selbstzufrieden, mochte sich immer nur amüsieren, mochte in alles, was ihn nichts anging, seine Nase stecken, war gleichzeitig dreist und doch feig, ein schändlicher Spottvogel und grenzenlos unartig. Einen Engel im Himmel konnte es um die Geduld bringen; und nun gar Kallem, der überhaupt keine Geduld hatte.
Dieser schmächtige, geschmeidige Krabat, der da mit feigen Seitenblicken auf das Pferd und die Peitsche vor ihm herhinkte, hatte den Unfrieden in seines Vaters Leben gebracht. Nicht allein, daß er ihn im tiefsten Innern unsicher gemacht hatte, nein, er hatte ihn bisweilen seine Ohnmacht fühlen lassen – bis zur Hilflosigkeit; in solchen Augenblicken hätte er den Jungen am liebsten in Stücke geschlagen.
Dann wieder konnte er ihn vornehmen, konnte drohen, flehen. Noch in dieser letzten Sturmnacht hatte er ihn ins Gebet genommen, hatte mit den eindringlichsten Worten die schmähliche Angst des Knaben zu bannen versucht, hatte ihn ermahnt, ihm durch Erzählungen aus der Naturgeschichte erklärt, wie alle Prophezeiungen vom Untergang der Welt nur Erfindungen seien, Lügen… Der Junge antwortete: "Hm" und "Ja" – und glaubte kein Wort von allem, was der Vater sagte! Sobald das Unwetter losbrach, war er wie verrückt gewesen – und auf und davon in der jammervollsten Todesangst! Und heute trifft er ihn hier, auf offener Landstraße, eine Meile vor der Stadt, in Regen und Wind und Schmutz – selbstverständlich ohne Erlaubnis! Erst verunglimpft er den bravsten Jungen der ganzen Schule, einen kleinen Kerl, über den Kallem sich manch liebes Mal gefreut und den er oft mit ein paar Groschen bei seiner kleinen Mission unterstützt hatte, wenn Josefine ihm davon erzählte; – und obendrein…
"Sieh mal an! Hölle und Teufel! Ob er nicht zu allem hin noch lacht!" dachte er, während er dabei tat, als sehe er es nicht. Und worüber eigentlich? Na ja, über das Pferd da hinter ihm, mit "Hölle und Teufel" auf dem Rücken – und die Peitsche – und die gleichmäßigen schweren Tritte im Schneeschmutz: schwapp-schwapp – — schwapp-schwapp – — schwapp-schwapp! Und das alles wuchs nach und nach ins Maßlose, wuchs an, bis es zu einem ungeheuren, formlosen, verzerrten Etwas wurde … Der Junge versuchte hastig, an etwas anderes zu denken, – er stürzte sich kopfüber in die englische Steinkohlengrube, die sich mit Wasser füllte – er suchte das Pferd, das hinter dem Jungen herkeuchte. Aber er kam nicht bis zur Grube hinunter; nichts als die helle Landstraße und "schwapp-schwapp – schwapp-schwapp" – und Hölle und Teufel, und die Peitsche, und er selber an der Spitze, auf anderthalb Beinen – hi-hi-hi!