Plötzlich fragte Riley sich…
Was zur Hölle habe ich da gerade gedacht?
Sie lächelte April an und sagte…
„Nein, ich muss nirgends hin. Stell dir vor…“
Sie lächelte stolz und fuhr fort…
„Ich habe ‚nein‘ gesagt.“
Aprils Augen weiteten sich. Dann lief sie zurück in die Küche und rief den anderen laut zu…
„Hey Leute! Mom hat nein zu einem Fall gesagt!“
Die beiden anderen Mädchen begannen „Yay!“ und „Gut gemacht!“ zu schreien, und Blaine schenkte Riley einen freudigen Blick.
Die Mädchen begannen sich untereinander scherzhaft zu necken, und Jilly sagte zu ihrer Schwester…
„Ich habe es dir gesagt. Ich hab’ gesagt, dass sie ‚nein‘ sagen wird.“
April entgegnete: „Nein, hast du nicht. Du warst noch pessimistischer als ich.“
„Stimmt ja gar nicht“, behauptete Jilly. „Du schuldest mir zehn Dollar.“
„Wir haben nie darauf gewettet!“
„Doch haben wir!“
Die zwei Mädchen schubsten einander spielend und kicherten, während sie sich weiter scherzhaft zankten.
Riley lachte ebenfalls und sagte: „Ok, Kinder. Jetzt ist gut mit der Streiterei. Verderbt uns nicht den perfekten Urlaub. Lasst uns lieber etwas essen.“
Dann gesellte auch Riley sich zu der plappernden, lachenden Truppe und den zubereiteten Abendsnacks.
Während sie aßen, warfen sie und Blaine sich immer wieder liebevolle Blicke zu.
Sie waren tatsächlich ein Paar mit drei Teenagern.
Riley fragte sich…
Wann hatte ich nur das letzte Mal einen so wundervollen Abend?
*
Riley lief barfuß über den Strand. Das Morgenlicht spiegelte sich in den Wellen. Die Möwen schrien, und es wehte eine kühle, sanfte Brise.
Das wird ein schöner Tag, dachte sie.
Doch etwas stimmte nicht.
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was es war…
Ich bin ganz alleine.
Sie suchte den Strand mit Blicken ab, doch konnte weit und breit niemanden entdecken.
Wo sind sie alle hin? fragte sie sich.
Wo waren April und Jilly und Crystal?
Und wo war Blaine?
Eine merkwürdige Panik begann in ihr aufzusteigen. Gleichzeitig kam ihr ein schrecklicher Gedanke…
Vielleicht habe ich das alles nur geträumt.
Ja, vielleicht hatte es die letzte Nacht nie so gegeben.
Vielleicht war nichts von alledem passiert.
Die liebevollen Momente mit Blaine, in denen sie ihre gemeinsame Zukunft geplant hatten.
Das Lachen ihrer zwei Töchter – und auch Crystals Lachen, die bald ihre dritte Tochter sein würde.
Das warme Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit – ein Gefühl, das sie ihr gesamtes Leben lang gesucht hatte, nach dem sie sich immer gesehnt hatte.
Alles nur ein Traum.
Und nun war sie allein – genauso allein wie sie es immer in ihrem Leben gewesen war.
In diesem Moment drangen Worte und Gelächter an ihr Ohr.
Sie drehte sich um, und da waren sie…
Blaine, Crystal, April und Jilly rannten über den Sand und warfen einander einen Strandball zu.
Riley atmete auf.
Natürlich war es echt, dachte sie.
Natürlich habe ich es mir nicht nur eingebildet.
Riley lachte glücklich und begann ihnen entgegenzurennen.
Doch dann hielt sie etwas Hartes und Unsichtbares zurück.
Wie eine unsichtbare Wand schob sich dieses etwas zwischen sie und die Menschen, die sie am meisten liebte.
Riley lief die Wand ab, fuhr mit den Händen tastend über sie und dachte…
Vielleicht kann man sie irgendwie umgehen.
Dann hörte sie ein bekanntes heiseres Lachen.
„Gib’s auf, Kindchen“, sagte eine Stimme. „Dieses Leben ist nichts für dich.“
Riley drehte sich um und sah jemanden in nur wenigen Metern Entfernung vor ihr stehen.
Es war ein Mann in der Uniform eines Marine Colonels. Er war groß und schlank, sein Gesicht verbraucht und faltig von jahrelanger Wut und vom Alkoholkonsum.
Er war der allerletzte Mensch auf dieser Welt, den Riley sehen wollte.
„Daddy“, murmelte sie ernüchtert.
Er kicherte düster und sagte: „Hey, du brauchst nicht so schrecklich verbittert zu klingen. Ich dachte, du würdest dich freuen, mit deinem eigenen Fleisch und Blut endlich wiedervereint zu werden.“
„Du bist tot“, sagte Riley.
Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Nun ja, wie du weißt, hält mich das nicht davon ab, mich ab und zu bei dir zu melden.“
Riley musste sich eingestehen, dass das der Wahrheit entsprach.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Vater seit seinem Tod letztes Jahr traf.
Und es war auch nicht das erste Mal, dass seine Anwesenheit sie verwirrte. Sie begriff nicht, wie sie mit einem Toten sprechen konnte.
Doch einer Sache war sie sich sicher.
Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben.
Sie wollte von Menschen umgeben sein, die sie nicht in den Selbsthass trieben.
Sie drehte sich um und wollte schon weiter in Richtung von Blaine und den Mädchen laufen, die weiterhin mit dem Strandball spielten.
Doch erneut wurde sie von der unsichtbaren Wand aufgehalten.
Ihr Vater lachte. „Wie oft muss ich es dir eigentlich noch sagen? Du gehörst nicht zu ihnen.“
Riley schüttelte es am ganzen Körper – ob vor Wut oder Trauer konnte sie nicht genau sagen.
Sie drehte sich zu ihrem Vater um und schrie…
„Lass mich in Ruhe!“
„Bist du dir sicher?“, fragte er. „Ich bin alles, was du hast. Ich bin alles, was du bist.“
Riley brummte: „Ich bin überhaupt nicht wie du. Ich weiß, was es bedeutet zu lieben und geliebt zu werden.“
Ihr Vater schüttelte den Kopf und scharrte mit den Füßen im Sand.
„Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid hätte“, sagte er. „Es ist ein verdammt sinnloses Leben, das du da führst – Gerechtigkeit für Menschen einzufordern, die bereits tot sind, für genau die Menschen, die keine Gerechtigkeit mehr brauchen. So wie ich in Vietnam, in einem dummen Krieg, den man nicht gewinnen konnte. Doch du hast keine Wahl, und es ist an der Zeit, dass du damit Frieden schließt. Du bist ein Jäger, genau wie ich. Ich habe dich so erzogen. Wir kennen nichts anderes – keiner von uns beiden.“
Riley schaute ihm jetzt direkt in die Augen, so als könnte sie ihm so ihren Willen aufzwingen.
Manchmal gewann sie, wenn sie ihn zum Blinzeln brachte.
Doch heute war keiner dieser Tage.
Sie blinzelte selbst und musste den Blick abwenden.
Ihr Vater lachte höhnisch und sagte: „Ach, wenn du alleine sein willst, so sei es. Auch ich kann auf deine Gesellschaft gut und gerne verzichten.“
Er drehte sich um und lief in die andere Richtung, den Strand hinab.
Riley drehte sich um und musste mitansehen, wie auch ihre Lieben sich aufmachten, zu gehen – April und Jilly hielten sich an der Hand, Blaine und Crystal machten sich auf ihren eigenen Weg.
Als sie begannen im morgendlichen Nebel zu verschwinden, begann Riley auf die unsichtbare Wand einzuschlagen und zu schreien…
„Kommt zurück! Bitte, kommt zurück! Ich liebe euch alle!“
Ihre Lippen bewegten sich zwar, doch kein Laut kam über sie.
*
Riley riss die Augen auf und fand sich im Bett liegend wieder.
Ein Traum, dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass es nur ein Traum war.
In ihren Träumen begegnete sie ihrem Vater gelegentlich.
Wie hätte sie ihn sonst sehen können, jetzt wo er tot war?
Sie brauchte einen weiteren Augenblick um zu bemerken, dass Tränen ihr über die Wangen liefen.
Die überwältigende Einsamkeit, die Isolation von den Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte, die warnenden Worte ihres Vaters…
„Du bist ein Jäger, genau wie ich.“
Kein Wunder, dass sie in solch einem Zustand aufgewacht war.
Sie griff nach einem Taschentuch und versuchte, ihr Schluchzen zu beruhigen. Doch auch nachdem ihr das gelungen war, wollte das Gefühl der Einsamkeit nicht weichen. Sie machte sich bewusst, dass die Kinder gleich im Zimmer nebenan waren und sie und Blaine entschieden hatten, in getrennten Zimmern zu schlafen.
Doch das half ihr jetzt auch nicht.
So ganz allein in der Dunkelheit hatte sie das Gefühl, dass alle anderen Menschen irgendwo sehr weit weg sein mussten, auf der anderen Seite der Welt.
Sie überlegte kurz, ob sie aufstehen und sich zu Blaine ins Bett schleichen sollte, aber…
Die Kinder.
Sie übernachteten in separaten Zimmern wegen der Kinder.
Sie schüttelte die Kissen neben ihrem Kopf auf und versuchte wieder einzuschlafen, doch die Gedanken konnte sie so leicht nicht abschütteln…
Ein Hammer.
Irgendjemand wurde in Mississippi mit einem Hammer ermordet.
Sie sagte sich, dass es nicht ihr Fall war, und dass sie Brent Meredith eine Absage erteilt hatte.
Doch selbst als der Schlaf sie langsam wieder überkam, ließ ein Gedanken sie noch immer nicht los…
Ein Mörder ist auf freiem Fuß.
Es gibt einen Fall, der gelöst werden muss.
KAPITEL FÜNF
Als Samantha morgens das Rushville Polizeirevier betrat, hatte sie das ungute Gefühl, dass ihr einiger Ärger bevorstand. Gestern hatte sie ein paar Anrufe getätigt, die sie vielleicht nicht hätte machen sollen.
Vielleicht sollte ich endlich lernen, mich nur um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, dachte sie.
Doch irgendwie fiel es ihr schwer, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Sie versuchte immer, die Dinge richtigzustellen – manchmal auch Dinge, die nicht richtiggestellt werden konnten, oder Dinge, von denen andere Leute nicht wollten, dass man sie richtigstellte.
Wie immer wenn sie zur Arbeit kam, konnte Sam keinen einzigen Cop weit und breit entdecken. Nur die Sekretärin des Chiefs, Mary Ruckle, saß bereits an ihrem Platz.
Die anderen Polizisten machten sich oft über Sam lustig…
„Die gute alte verlässliche Sam“, sagten sie. „Morgens immer die erste und abends die letzte.“
Jedoch klangen diese Bemerkungen meist eher nach Spott als nach Anerkennung. Sie versuchte sich stets vor Augen zu führen, dass es für sie ganz natürlich war, die „gute alte verlässliche Sam“ aufzuziehen. Sie war jünger als sie alle und arbeitete zudem noch nicht so lange auf dem Rushville Revier. Es half auch nicht, dass sie die einzige Frau im gesamten Revier war.
Einen Moment lang schien Mary Ruckle Sams Ankunft gar nicht bemerkt zu haben. Sie war damit beschäftigt, sich die Fingernägel zu lackieren – eine Beschäftigung, mit der sie den Großteil des Arbeitstages zubrachte. Sam verstand den Reiz einer Maniküre nicht. Sie hatte unlackierte Nägel, die sie regelmäßig schnitt, was einer der vielen Gründe sein mochte, weshalb die Leute sie für nun ja…
Unweiblich hielten.
Nicht dass Sam gefunden hätte, dass Mary Ruckle sonderlich attraktiv gewesen wäre. Ihr Gesicht war immer angespannt und hatte diesen Ausdruck von Gemeinheit, so als hätte ihr jemand eine zwickende Wäscheklammer auf die Nase gesetzt. Immerhin war Mary verheiratet und hatte drei Kinder, und nur wenige Leute in Rushville trauten Sam zu, vergleichbares zu erreichen.
Ob Sam selbst so ein Leben wollte, wusste sie nicht. Sie versuchte, nicht zu viel über die Zukunft nachzudenken. Vielleicht war das der Grund, aus dem sie sich immer so intensiv auf genau das konzentrierte, was ihr an jedem gegebenen Tag bevorstand. Sie konnte sich nicht wirklich irgendeine Zukunft für sich selbst vorstellen, zumindest sagte ihr keine derjenigen Optionen zu, die ihr hier in Rushville offenstanden.
Mary pustete auf ihre Nägel und als sie zu Sam aufschaute sagte sie…
„Chief Crane will dich sehen.”
Sam nickte seufzend.
Genau wie erwartet, dachte sie.
Sie betrat das Büro des Chiefs. Er spielte gerade Tetris auf seinem Computer.
„Einen Moment“, grummelte er, als er hörte, dass Sam den Raum betreten hatte.
Abgelenkt von Sams Ankunft verlor er das Spiel nur wenige Augenblicke später.
„Verdammt“, sagte er und starrte weiter auf den Bildschirm.
Sam machte sich bereit. Er war wahrscheinlich schon vorher sauer auf sie gewesen. Das Verlieren der Tetrispartie hatte seine Laune bestimmt nicht besser gemacht.
Der Chief drehte sich in seinem Drehstuhl zu ihr um und sagte…
„Kuehling, setzen.“
Sam setzte sich gehorsam auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Er starrte sie einige Momente lang betont nachdenklich an während seine Fingerspitzen in Dreieckspose wichtigtuerisch in die Höhe ragten. Wie immer konnte er Sam damit nicht beeindrucken.
Crane war um die Dreißig, er sah auf eine langweilige Art und Weise gut aus – so wie Sam sich einen Versicherungskaufmann vorstellte. Dank des Machtvakuums das Chief Jason Swihart hinterlassen hatte als er vor zwei Jahren plötzlich wegzog, war Crane zum Polizeichief aufgestiegen.
Swihart war ein guter Chief gewesen, und alle hatten ihn gemocht, Sam miteingeschlossen. Swihart hatte ein tolles Jobangebot von einer Sicherheitsfirma im Silicon Valley bekommen, das er verständlicherweise sofort angenommen hatte.
Deshalb unterstanden nun Sam und all die anderen Cops dem neuen Chief Carter Crane. In Sams Augen verkörperte er die Mittelmäßigkeit der gesamten sehr mittelmäßigen Abteilung. Sam hätte es nie offen zugegeben, aber sie war überzeugt, dass sie ein hellerer Kopf war als Crane und alle anderen Cops ihres Reviers zusammengenommen.
Es wäre schön, mal eine Chance zu bekommen, das auch zu zeigen, dachte sie.
Endlich sagte Crane: „Ich habe einen interessanten Anruf gestern Nacht erhalten – von einem gewissen Spezialagenten Brent Meredith aus Quantico. Du wirst nicht glauben, was er mir erzählt hat. Andererseits, wer weiß, vielleicht weißt du selbst es ja schon viel besser als ich.“
Sam seufzte entnervt und sagte: „Komm schon, Chief. Komm auf den Punkt. Ich habe gestern Nachmittag das FBI verständigt, ja. Ich habe mit mehreren Leuten gesprochen, bevor ich dann mit Meredith verbunden wurde. Ich dachte, dass irgendjemand das FBI schließlich benachrichtigen müsste. Sie sollten hier sein und uns helfen.“
Crane grinste böse und sagte: „Lass mich raten, du denkst noch immer, dass Gareth Ogdens vorgestern Nacht von einem Serienmörders ermordet worden ist. Und zu allem Überfluss kommt der deiner Meinung nach auch noch direkt aus Rushville.“
Sam verdrehte die Augen.
“Muss ich das wirklich alles nochmal erklären?“, fragte sie. „Die gesamte Bonnett Familie wurde hier vor einigen Jahren eines Nachts ermordet. Irgendjemand hat ihnen die Köpfe mit einem Hammer eingeschlagen. Der Fall ist nie gelöst worden.“
Crane nickte und sagte: „Und du denkst, dass derselbe Mörder nun nach zehn Jahren aus seinem Versteck gekommen ist.“
Sam zuckte mit den Schultern und sagte: „Das ist eine ziemlich offensichtliche Verbindung. der modus operandi ist identisch.“
Crane wurde plötzlich laut.
„Es gibt hier keinerlei Verbindung. Wir sind das doch alles gestern schon einmal durchgegangen. Der modus operandi ist ein bloßer Zufall. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Gareth Ogden von einem durchreisenden Obdachlosen umgebracht wurde. Wir verfolgen jede Spur, die wir haben. Doch wenn er seine Tat nicht irgendwo noch einmal wiederholt, werden wir ihn vermutlich nie erwischen.“
Sam spürte, wie Ungeduld in ihr zu kochen begann.
Sie sagte: „Wenn es bloß ein durchreisender Obdachloser war, wieso gibt es keinerlei Anzeichen eines Raubs oder Überfalls?“
Crane schlug mit der Handfläche auf den Tisch.
„Verdammt nochmal, du willst auch wirklich nicht aufgeben, oder? Wir wissen nicht, ob nichts gestohlen wurde. Ogden war dumm genug, seine Eingangstür nicht abzuschließen. Vielleicht war er auch so dumm, einen Haufen Geld auf dem Kaffeetisch liegen zu lassen. Der Mörder hat das gesehen und beschlossen, es sich unter den Nagel zu reißen, bevor oder nachdem er Ogden den Schädel eingeschlagen hat.“