„Das ist sie ja! Sie ist über das halbe Deck gerutscht!“, rief einer der Empirekrieger.
Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz an den empfindlichen Schuppen in ihrem Gesicht, und sie sah, wie zwei Krieger sie mit zehn Meter langen Stangen durch das Netz anstießen.
Sie wollte sich auf sie stürzen, doch das Netz verhinderte es. Sie knurrte, als sie sie immer weiter mit den Stöcken piesackten – sie lachten und hatten offensichtlich Spaß dabei.
„Jetzt ist sie gar nicht mehr so furchteinflößend, nicht wahr?“, sagte einer.
Der andere lachte und stieß sie gefährlich nahe an ihrem Auge an.
„Sie ist so harmlos wie eine Fliege!“, sagte ein anderer.
„Ich habe gehört, dass sie sie in der Hauptstadt ausstellen wollen.“
„Ich habe da etwas anderes gehört.“, sagte der erste. „Ich habe gehört, dass sie ihr die Flügel stutzen wollen und sie dafür, was sie unseren Männern angetan hat, foltern werden.“
„Ich wünschte ich könnte dabei sein.“
„Müssen wir sie wirklich heil abliefern?“, fragte einer.
„So sind die Befehle.“
„Aber ich sehe keinen Grund, warum wir sie nicht zumindest ein wenig quälen sollten. Sie braucht doch nicht wirklich beide Augen, was denkst du?“
Der andere lachte.
„So wie du es jetzt sagst, nein, wirklich nicht“, lachte er. „Na los.“
Einer der Männer trat näher an sie heran und hob seinen Speer hoch.
„Schön stillhalten, kleines Mädchen.“, sagte er.
Mycoples zuckte zusammen und war dem Krieger, der mit erhobenem Speer auf sie zu gerannt kam hilflos ausgeliefert.
Plötzlich brach eine neue Welle über dem Bug zusammen. Das Wasser riss den Krieger von den Füssen und er wurde direkt vor ihr Gesicht gespült – seine Augen vor Schreck weit aufgerissen. Unter riesiger Anstrengung gelang es ihr, eine ihrer Klauen gerade hoch genug zu heben, damit der Krieger unter sie rutschen konnte und sie jagte sie ihm durch den Hals.
Er kreischte und sein Blut sprudelte überall hin, mischte sich mit dem Wasser, als er unter ihr starb.
Mycoples spürte ein klein wenig Befriedigung.
Der andere Krieger drehte sich um und rannte um Hilfe schreiend davon. Augenblicke später kam er mit einem Dutzend anderer zurück, die alle mit langen Speeren bewaffnet waren.
„Tötet das Biest!“
Mycoples war sich sicher, dass sie sie töten würden. Eine plötzliche unbändige Wut brandete in ihr auf, anders, als sie es je zuvor gespürt hatte. Sie schloss ihre Augen und betete zu Gott, er möge ihr einen letzten Energieschub gewähren.
Langsam spürte sie eine enorme Hitze in ihrem Bauch ihren Hals hinauf aufsteigen. Sie öffnete ihr Maul und stieß einen donnernden Schrei aus. Zu ihrer großen Überraschung wurde der Schrei von Feuer begleitet. Die Flammen schossen durch das Netz, und auch wenn das Feuer das Akron nicht zerstören konnte, hüllte doch eine Wand aus Feuer die Männer ein, die sie hatten angreifen wollen.
Sie schrien als ihre Körper Feuer fingen, und die meisten brachen an Deck zusammen, einige wenige sprangen über Bord. Mycoples lächelte.
Ein weiteres Dutzend Männer erschien und schwang dicke Knüppel. Mycoples versuchte, noch einmal Feuer zu speien.
Doch dieses Mal geschah nichts.
Gott hatte ihr Gebet erhört und ihr einen letzten Energieschub gewährt. Doch jetzt konnte sie nichts mehr tun. Sie war dankbar, dass er ihr zumindest diesen kleinen Triumph geschenkt hatte.
Die Männer prügelten mit ihren Knüppeln auf sie ein, und langsam spürte Mycoples ihre letzten Kräfte schwinden, sie rollte sich resigniert eng zusammen und war sich sicher, dass sich ihre Zeit auf dieser Welt dem Ende zuneigte.
Gnädige Finsternis hüllte sie ein.
KAPITEL SIEBEN
Romulus stand auf der Brücke seines riesigen Schiffs. Es war schwarz und gold bemalt und fuhr unter dem Banner des Empire, dem Löwen mit dem Adler im Maul, das stolz im Wind wehte. Er stand mit in die Hüften gestemmten Händen da, sein muskulöser Körper wirkte sogar noch breiter, als er wie fest verwurzelt an Deck stand und hinausblickte auf die leuchtenden Wellen der Ambrek See. In der Ferne kam gerade die Küste des Rings in Sicht.
Endlich.
Romulus‘ Herz machte einen Sprung als er das erste Mal die Küste des Rings sah. Er hatte ein paar Dutzend der besten Krieger persönlich ausgewählt, um mit ihm auf dem ersten Schiff allen anderen voran zu segeln, und hinter ihm folgten Tausende der besten Schiffe, die das Empire besaß.
Eine riesige Armada die das Meer bevölkerte, alle unter dem Löwenbanner. Sie waren beinahe um den gesamten Ring herumgesegelt, entschlossen auf der McCloud’schen Seite zu landen. Romulus war entschlossen, selbst in den Ring einzufallen, sich an seinen alten Meister Andronicus anzuschleichen, und ihn umzubringen, wenn er es am wenigsten erwartete.
Er lächelte bei dem Gedanken. Andronicus hatte keine Ahnung von der Macht und der Raffinesse seiner Nummer Zwei, und er würde beides bald am eigenen Leib erfahren. Andronicus hätte ihn nie unterschätzen sollen.
Riesige Wellen rollten vorbei und die kalte Gischt wehte ihm ins Gesicht. Er hielt den magischen Mantel, den er im Wald erhalten hatte, fest in den Händen, und er spürte, dass es funktionieren würde. Er war sich sicher, dass der Mantel ihn sicher über den Canyon bringen würde. Er wusste, dass er unsichtbar werden würde sobald er ihn anlegte, dass er den Schild durchdringen würde, um dann in den Ring einzudringen. Seine Mission erforderte Verschwiegenheit, Gerissenheit und einen großen Überraschungsmoment. Seine Männer konnten ihm natürlich zunächst nicht folgen, doch er brauchte sie nicht: Wenn er einmal im Ring war, würde er Andronicus‘ Männer finden – die Männer des Empire – und sie um sich scharen. Er würde sie aufspalten und seine eigene Armee bilden. Die Krieger liebten ihn mindestens genauso, wie sie Andronicus liebten. Er würde Andronicus eigene Männer gegen ihn führen. Sicher würden sich nicht alle ihm anschließen, und es würde einen Krieg geben. Doch das störte ihn nicht.
Romulus würde einen MacGil finden und ihn zurück über den Canyon bringen, so wie es der Mantel verlangte, und wenn die Legende wahr war, würde damit der Schild für immer zerstört werden. Dann würde er alle seine Männer rufen, und seine gesamte Armee würde hineinströmen und den Ring ein für alle Mal zerstören. Dann endlich würde Romulus der Herrscher über die ganze Welt sein.
Er holte tief Luft. Er konnte den Sieg schon fast schmecken. Sein ganzes Leben lang hatte er auf diesen Augenblick hingearbeitet.
Romulus blickte zum blutroten Himmel hinauf und betrachtete den riesigen Feuerball der zweiten Sonne, die gerade unterging. Zu dieser Tageszeit glühte sie tiefblau und purpurn. Zu dieser Tageszeit betete Romulus immer zu seinen Göttern, dem Gott des Landes, dem Gott der See, dem Gott des Himmels, dem Gott des Windes – und am allermeisten zum Gott des Krieges. Er wusste, dass er sie alle beschwichtigen musste und war vorbereitet: Er hatte genug Sklaven mitgebracht, die er ihnen opfern konnte, denn er wusste, dass ihr Blut ihm Macht verleihen würde.
Die Wellen rauschten um ihn herum, als sie sich der Küste näherten. Romulus wartete nicht auf die anderen, die die Seile hinabließen, sondern sprang direkt vom Bug, als das Schiff auf Sand lief. Gut sieben Meter weiter unten landete er hüfttief im eiskalten Wasser. Er zuckte nicht einmal.
Romulus watete ans Ufer als gehörte das Land bereits ihm und hinterließ seine Fußabdrücke im jungfräulichen Sand. Hinter ihm begannen seine Männer an den Seilen vom Schiff zu klettern, während ein Schiff nach dem anderen landete.
Romulus betrachtete wohlwollend was er bisher erreicht hatte, und lächelte. Es wurde dunkel, und er hatte die Küste zum perfekten Zeitpunkt erreicht, um den Göttern ein Opfer darzubringen. Er wusste, dass er ihnen dafür Dank zollen musste.
Er drehte sich zu seinen Männern um.
„MACHT FEUER!“, rief er.
Seine Männer beeilten sich, einen riesigen Scheiterhaufen zu bauen, fünf Meter hoch in der Form eines Dreiecks und bereit, angezündet zu werden.
Romulus nickte, und seine Männer zerrten ein Dutzend Sklaven herbei, die aneinander gefesselt waren. Sie wurden um den Scheiterhaufen herum angebunden und blickten mit Panik in den Augen um sich. Sie schrien und wehrten sich als sie die Fackeln sahen und sich der Tatsache bewusst wurden, dass sie bald bei lebendigem Leib verbrannt werden würden.
„NEIN“, schrie einer. „Bitte! Ich flehe dich an! Alles, nur nicht das!“
Romulus schenkte ihm keine Beachtung. Stattdessen wandte er sich ab streckte die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken.
„OMARUS!", rief er. „Gib uns Licht, damit wir sehen können. Nimm heute Nacht mein Opfer an. Begleite mich auf meiner Reise durch den Ring. Gib mir ein Zeichen und lass mich wissen, ob ich Erfolg haben werde!“
Romulus senkte seine Arme wieder und auf dieses Zeichen hin, warfen seine Männer ihre Fackeln auf den Scheiterhaufen.
Entsetzliche Schreie erhoben sich, als die Sklaven von den Flammen erfasst wurden. Funken flogen und Romulus stand mit glühendem Gesicht da und betrachtete das Schauspiel.
Er nickte, und seine Männer trugen eine blinde alte Frau auf einer Sänfte nach vorn. Sie beugte sich zu den Flammen vor, die ihr Gesicht erleuchteten. Es war von tiefen Falten durchzogen und ihr Körper vornüber gebeugt. Romulus sah sie geduldig an und wartete auf ihre Prophezeiung.
„Du wirst mit deinen Plänen Erfolg haben“, sagte sie. „Es sei denn, du siehst, wie sich die beiden Sonnen berühren.“
Romulus lächelte breit. Wie sollten sich die Sonnen berühren? Das war seit mehr als Tausend Jahren nicht mehr passiert.
Er fühlte sich ermutigt und es wurde ihm warm ums Herz. Das war genau das, was er hören wollte. Die Götter waren mit ihm.
Romulus griff seinen Mantel, stieg auf sein Pferd und gab ihm die Sporen. Er ritt alleine über den Strand auf die Straße, die ihn zur Östlichen Querung und über den Canyon führen würde. Mitten ins Herz des Rings.
KAPITEL ACHT
Selese und Illepra liefen zwischen den Überresten des Schlachtfelds hindurch. Sie gingen von einem Körper zum nächsten und suchten nach Lebenszeichen. Es war ein langer, harter Marsch von Silesia hierher gewesen, und die beiden waren zusammengeblieben, als sie der Armee folgten und sich um die Verwundeten kümmerten. Sie hatten sich von den anderen Heilern abgesondert und waren Freundinnen geworden – die Not schweißte sie zusammen.
Sie waren fast gleich alt und ähnelten einander sehr. Doch was noch viel wichtiger war – beide liebten sie einen MacGil Jungen. Selese liebte Reece, und so sehr Illepra sich auch dagegen wehrte: Sie liebte Godfrey.
Die Mädchen hatten sich größte Mühe gegeben, mit der Armee mitzuhalten, während sie durch Felder und Wälder und über matschige Straßen zogen und dabei die Gegend nach Verletzten MacGil Kriegern durchkämmten. Leider fiel ihnen das nicht schwer. Viel zu viele von ihnen lagen in der Landschaft verstreut. Manchen konnte Selese helfen, doch in vielen Fällen war das Beste, was Illepra und sie tun konnten, ihre Wunden zu versorgen und ihre Schmerzen mit Elixieren zu lindern um ihnen einen friedlichen Tod zu ermöglichen.
Es brach Selese das Herz. Sie war ihr ganzes Leben lang Heilerin in ihrem kleinen Dorf gewesen und war nie mit derart schweren Verletzungen konfrontiert gewesen. Ihr Alltag hatte aus Kratzer, Schnitten, ein paar gebrochenen Knochen und einem gelegentlichen Forsythenbiss bestanden. Doch dieses Blutvergießen hier hatte unglaubliche Ausmaße. Die schiere Anzahl der verletzten, ihre schrecklichen Wunden, und all die Toten überwältigten sie. Sie war zutiefst traurig.
In ihrem Beruf wollte Selese die Menschen heilen, sehen, wie es ihnen gut ging; doch seit sie aus Silesia aufgebrochen waren, hatte sie nichts gesehen als eine nichtendenwollende Spur von Blut. Wie konnten Männer einander nur so schreckliche Dinge antun? Sie waren doch alle Söhne ihrer Mütter. Sie waren Brüder, Väter und Ehemänner. Wie konnten die Menschen nur so grausam sein?
Die Tatsache, dass sie nicht allen helfen konnte, brach ihr das Herz. Die Menge der Medikamente, die sie bei sich trug war beschränkt, und angesichts des langen Marsches war es nicht viel. Die anderen Heiler waren über den ganzen Ring verteilt. Sie waren wie eine eigene Armee, doch sie waren weit verstreut und ihre Vorräte an Elixieren und Heilmitteln war beschränkt. Ohne Pferdekarren und Helfern konnten sie nur das mit sich führen, was sie tragen konnte.
Selese schloss die Augen und holte tief Luft. Doch sie sah immer noch die Gesichter der Verwundeten vor sich. Zu oft hatte sie heute schon Kriegern mit tödlichen Verletzungen geholfen die vor Schmerzen schrien, hatte zusehen müssen, wie ihre Augen glasig wurden und ihnen Blatox gegeben.
Blatox war ein sehr effektives Schmerz- und Beruhigungsmittel. Doch es konnte eine eiternde Wunde nicht heilen oder eine Infektion aufhalten. Ohne all ihre Kräuter war das alles, was sie tun konnte. Ihr war zum Weinen und zum Schreien zumute.
Selese und Illepra knieten wenige Meter voneinander entfernt neben verwundeten Kriegern und waren damit beschäftigt ihre Wunden zu vernähen. Selese hatte dieselbe Nadel schon viel zu oft verwenden müssen, und wünschte, sie hätte eine saubere. Doch sie hatte keine Wahl. Der Krieger schrie vor Schmerz als sie versuchte, eine lange klaffende Wunde an seinem Arm zuzunähen, die nicht aufhören wollte zu bluten. Selese versuchte mit dem Druck ihrer Hand die Blutung zu stoppen.
Doch es war ein aussichtsloser Kampf. Wenn sie nur einen Tag früher bei diesem Mann gewesen wäre, wäre es nicht schlimm gewesen. Doch jetzt schob sie das Unvermeidliche nur auf.
„Es wird alles gut“ redete ihm Selese zu.
„Das wird es nicht.“, sagte er, und der Tod blickte sie durch seine Augen an. Es war ein Anblick, den sie in den letzten Tagen schon viel zu oft gesehen hatte. „Sag mir Heilerin, muss ich sterben?“
Selese hielt den Atem an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte nicht lügen, doch sie konnte es nicht ertragen, es ihm zu sagen.
„Unser Schicksal liegt in den Händen unserer Schöpfer. Es ist nie zu spät für uns. Hier, trink das.“, sagte sie und setzte ihm ein kleines Fläschchen mit Blatox an die Lippen, während sie ihm über die Stirn strich.
Sein Blick wurde trüb und er wirkte friedlich.
„Ich fühle mich besser“, sagte er.
Augenblicke später schloss er die Augen.
Eine Träne rollte Selese über das Gesicht und sie wischte sie schnell fort.
Auch Illepra war mit der Versorgung ihres Verwundeten fertig, und stand auf. Widerwillig gingen sie gemeinsam weiter, und kamen an immer mehr Toten vorbei. Während sie der Armee folgten, kamen sie immer weiter nach Osten.
„Können wir hier überhaupt irgendetwas ausrichten?“, fragte Selese schließlich nach einer langen Stille.
„Natürlich“, antwortete Illepra.
„Es kommt mir nicht so vor.“, sagte Selese. „Wir konnten nur so wenige retten und haben so viele verloren!“
„Doch was ist mit den wenigen, die wir retten konnten?“, gab Illepra zurück. „Sind die denn gar nichts Wert?“
Selene dachte nach.
„Natürlich sind sie das“, sagte sie. „Doch was ist mit den anderen?“