Diedre und Marco brauchten kein weiteres Stichwort, drehten sich um und saßen beide auf Andor auf und galoppierten nach Süden in die Wälder, zurück zur Stadt Ur.
Leo blieb zurück an Kyles Seite und Kyle streichelte seinen Kopf.
„Du denkst an mich und du denkst dabei an Kyra, nicht Junge?“ fragte Kyle Leo.
Leo winselte zutraulich zurück und Kyle wusste, dass er bei ihm bleiben und ihn beschützen würde, so als ob er Kyra selbst wäre. Er fühlte, dass er einen großartigen Kampfpartner in ihm gefunden hatte.
Kyle sah fragend zurück, als Alva sich drehte und auf die Wälder Richtung Norden schaute.
„Und wir, mein Meister?“ fragte Kyle. „Wo werden wir gebraucht?“
„Genau hier“, sagte Alva.
Kyle starrte auf den Horizont und tat es Alva gleich und blickte nach Norden Richtung Marda.
„Sie kommen“, fügte Alva hinzu. „Und wir drei sind die letzte und entscheidende Hoffnung.“
KAPITEL FÜNF
Kyra wurde von Panik ergriffen als sie gegen das Netz der Spinne kämpfte, sie wand sich hin und her, verzweifelt sich zu befreien, doch die riesige Kreatur kam immer näher. Sie wollte nicht hingucken, aber sie konnte nicht anders. Sie drehte sich um und wurde von Todesfurcht ergriffen als sie die zischende, riesige Spinne auf sich zukommen sah, die ein riesiges Bein nach dem anderen vor sich setzte. Die Spinne starrte sie mit ihren riesigen roten Augen an, streckte ihre langen haarigen Beine aus und öffnete ihr Maul weit und entblößte gelbe Giftzähne von denen Speichel hinunterlief. Kyra wusste, dass sie nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte – und dass dies eine schreckliche Art zu sterben war.
Als sie sich hin und her wand, hörte sie überall um sich herum das Klappern von Knochen im Netz, sie schaute nach unten und sah die Überreste der ganzen Opfer, die bereits vor ihr gestorben waren und sie wusste, dass ihre Überlebenschancen sehr schlecht standen. Sie war im Netz gefangen und es gab nichts was sie tun konnte.
Kyra schloss ihre Augen und wusste sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte sich nicht auf die äußere Welt verlassen. Sie musste nach Innen schauen. Sie wusste, dass die Antwort nicht in ihrer äußeren Kraft lag, in ihren äußeren Waffen. Wenn sie sich auf die äußere Welt verließe, würde sie sterben.
Im Inneren nämlich, spürte sie, dass ihre Kraft weit und unendlich war. Sie musste ihre innere Stärke benutzen, musste die Kräfte rufen, vor denen sie Angst hatte. Sie musste endlich verstehen, was sie antrieb, musste das Endergebnis ihres gesamten spirituellen Trainings verstehen.
Energie. Das war es, was Alva ihr beigebracht hatte. Wenn wir uns auf uns selbst verlassen, dann nutzen wir nur einen Bruchteil unserer Energie, einen Bruchteil unseres Potenzials. Geh und benutze die Energie der Welt. Das gesamte kollektive Universum wartet darauf dir zu helfen.
Es floss durch ihre Venen, sie konnte es spüren. Es war dieses spezielle Etwas mit dem sie geboren worden war, das ihre Mutter an sie weitergegeben hatte. Es war die Macht die durch alles floss, wie ein Fluss unter der Erde. Es war dieselbe Kraft, der sie lange Zeit nicht getraut hatte. Es war der tiefste Teil ihrer selbst und immer noch der Teil, dem sie immer noch nicht vollständig traute. Es war der Teil vor dem sie am meisten Angst hatte, mehr Angst als vor jedem Feind. Sie wollte ihre Mutter rufen, sie brauchte verzweifelt ihre Hilfe. Dennoch wusste sie, sie konnte sie hier nicht erreichen, hier in diesem Land, in Marda. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Vielleicht war genau das, dieses völlige Alleinsein und von Nichts und Niemandem abhängig sein zu können, der letzte Pfeiler ihres Trainings.
Kyra schloss ihre Augen und wusste, es war jetzt oder nie. Sie fühlte, dass sie größer als sie selbst werden musste, größer als die Welt, die vor ihr lag. Sie zwang sich auf die Energie, die vor ihr lag zu konzentrieren und auf die ganze Energie um sie herum.
Langsam tauchte Kyra ein. Sie fühlte die Energie des Spinnennetzes, der Spinne, sie konnte spüren, wie es durch sie hindurchlief. Sie erlaubte langsam, dass es Teil von ihr wurde. Sie kämpfte nicht mehr länger dagegen an. Im Gegenteil sie erlaubte sich eins mit ihr zu werden.
Kyra fühlte wie sie langsamer wurde, wie die Zeit langsamer wurde. Sie gab sich bis ins kleinste Detail hinein, sie hörte und fühlte alles, was um sie herum geschah.
Auf einmal spürte Kyra einen Blitz der Energie und fühlte zum ersten Mal, dass das ganze Universum eins war. Sie fühlte, wie all die Wände der Trennung sich lösten, fühlte wie die Barrieren zwischen den inneren und äußeren Welten verschwammen. Sie spürte, dass die Trennung selbst falsch war.
Als sie das tat, wurde sie von einem Strom der Energie durchflossen, so als ob ein Damm in ihr durchbrochen wurde. Ihre Handflächen brannten, als ob sie aus Feuer wären.
Kyra öffnete ihre Augen und sah die Spinne, die nun so nah war und auf sie hinabblickte, bereit zu springen. Sie drehte sich um und sah ihren Stab, einige Meter entfernt im Netz hängen. Sie griff danach und zweifelte nicht mehr länger an sich. Sie rief ihren Stab und als sie das tat, flog er durch die Luft, genau in ihre wartende Handfläche. Sie umklammerte ihn entschlossen.
Kyra benutzte ihre Kräfte, sie wusste, sie war stärker als alles, was da vor ihr lag und sie vertraute sich selbst. Sie erhob den Arm, der den Stab hielt und befreite sich vom Netz.
Sie drehte sich zur Seite, genau in dem Moment als die Spinne ihre Giftzähne in sie rammen wollte. Sie holte aus und stieß ihr den Stab ins Maul.
Die Spinne ließ einen schrecklichen Schrei ertönen und Kyra bohrte ihren Stab tief in ihren Schlund und drehte ihn zur Seite. Sie versuchte ihren Kiefer zu schließen, aber sie konnte nicht, der Stab hielt ihr Maul offen.
Aber dann, zu Kyras Überraschung, schloss sie plötzlich ihren Kiefer und zertrümmerte den alten Stab. Das was nicht brechen konnte, brach. In ihrem Maul zerkleinerte sie ihn wie einen Zahnstocher. Das Biest war mächtiger als sie gedacht hatte.
Die Spinne sprang in ihre Richtung und in diesem Moment wurde die Zeit langsamer. Kyra fühlte wie alles in ihren Fokus rückte. Sie fühlte tief im Inneren, dass sie sich befreien konnte und dass sie schneller als die Spinne sein konnte.
Kyra sprang nach vorne, befreite sich selbst und zog sich nach hinten ins Netz zurück; als die Spinne ihre Giftzähne ausstreckte biss sie in das Netz und nicht in Kyra.
Als Kyra sich konzentrierte spürte sie zum ersten Mal ein entferntes Summen in der Luft, sie fühlte wie etwas sie rief. Sie drehte sich um und sah, auf der entfernten anderen Seite des Netzes, den Grund warum sie nach Marda gekommen war: Den Stab der Wahrheit. Da war er, in einen Block aus schwarzem Granit eingeschlossen, ein ätherisches Leuchten unter dem Mitternachtshimmel.
Kyra fühlte eine intensive Verbindung zu ihm, sie fühlte wie ihre Handflächen kribbelten als sie mit ihrer rechten Hand danach griff. Sie ließ den lautesten Kampfschrei ihres Lebens ertönen und wusste einfach, dass der Stab auf sie hören würde.
Auf einmal merkte Kyra wie die Erde unter ihr wackelte. Sie wusste, dass sie die Waffe aus dem Kern der Erde zog und für einen herrlichen Augenblick, zweifelte sie nicht mehr an sich selbst, ihren Kräften oder am Universum.
Ein lautes Geräusch folgte, so als ob Stein gegen Stein kratzte und Kyra sah erstaunt zu, wie sich der Stab langsam erhob und aus dem Granit brach. Es flog langsam nach oben und dann durch die Luft und sein schwarzer, juwelenverzierter Stab landete in Kyras rechter Hand. Sie ergriff ihn und fühlte sich lebendig. Es war wie eine Schlange in der Hand zu halten, so als ob sie ein lebendes Ding in der Hand hielt.
Ohne zu zögern, drehte sich Kyra um und schlug damit auf die näherkommende Spinne ein. Der Stab verwandelte sich plötzlich in eine Klinge und zerschnitt das riesige Netz in zwei Hälften.
Die Spinne kreischte und fiel verwundert zu Boden.
Kyra drehte sich um und zerschnitt erneut das Netz, befreite sich vollständig und landete auf ihren Füßen. Sie hielt den Stab mit beiden Händen hoch erhoben über ihren Kopf, genau als das Biest sie angriff. Sie stellte sich ihm mutig, trat nach vorne und schlug mit dem Stab der Wahrheit mit aller Kraft nach ihr. Sie fühlte wie der Stab durch den dicken Körper der Spinne schnitt. Sie ließ einen schrecklichen Schrei ertönen, als sie in zwei Stücke geteilt wurde.
Dickes, schwarzes Blut lief von ihr herab, als die Spinne tot zu ihren Füßen fiel.
Kyra stand dort und hielt den Stab, ihre Arme zitterten und sie spürte einen Strom von Energie durch sie strömen, anders als alles, was sie je gespürt hatte. Sie fühlte, dass sie sich in diesem Moment verändert hatte. Sie fühlte, dass sie mächtiger geworden war und dass sie niemals wieder die Gleiche sein würde. Sie fühlte, dass sich alle Türen geöffnet hatten und dass alles möglich war.
Hoch oben donnerte es am Himmel und Blitze leuchteten auf. Scharlachrotes Leuchten schoss durch die Wolken, legte sich wie Streifen über die Wolken, die aussahen wie schmelzende Lava. Dann folgte ein ohrenbetäubendes Brüllen und Kyra war überglücklich als sie sah, dass Theon durch die Wolken schoss. Die Barriere war aufgehoben worden, das fühlte sie, als sie den Stab ergriffen hatte. Zum ersten Mal spürte sie, dass sie diejenige war, die dazu bestimmt war alles zu ändern.
Theon landete zu ihren Füßen und ohne innezuhalten stieg sie auf seinen Rücken. Sie flogen gemeinsam hoch in die Luft. Donner ertönte überall um sie herum als sie durch den Himmel flogen in Richtung Süden, weg von Marda und zurück nach Escalon. Kyra wusste, dass sie in ihre tiefsten Tiefen gegangen war und sich durchgesetzt hatte. Sie hatte ihren letzten Test bestanden.
Und nun mit dem Stab der Wahrheit in ihrer Hand, hatte sie einen Krieg zu führen.
KAPITEL SECHS
Als sie die Segel setzten beobachtete Lorna wie die immer noch brennende Insel Knossos am Horizont verblasste und der Anblick brach ihr das Herz. Sie stand am Bug des Schiffes und umklammerte die Reling. Merk befand sich an ihrer Seite und die Flotte der verlorenen Inseln hinter ihr und sie konnte spüren wie alle Blicke auf ihr lagen. Diese geliebte Insel, das Zuhause der Wächter, der mutigen Krieger von Knossos, gab es nicht mehr. Es stand in Flammen, seine herrliche Festung zerstört, die geliebten Krieger, die dort für tausende von Jahren gewacht hatten waren nun alle tot. Sie waren entweder von der Welle von Trollen oder von der Horde Drachen umgebracht worden.
Lorna spürte eine Bewegung, drehte sich um und bemerkte, dass Alec, der Junge der die Drachen getötet und die Todesbucht endlich zum Verstummen gebracht hatte, neben sie trat. Er stand dort und sah genauso betroffen aus wie sie. Er hielt sein Schwert in der Hand und sie spürte wie sie eine Welle der Dankbarkeit für Alec und für sein Schwert überkam. Sie blickte zum unfertigen Schwert hinab, es war wunderschön und sie konnte die intensive Energie spüren, die von ihm ausging. Sie rief sich den Tod des Drachens in Erinnerung und sie wusste, dass er das Schicksal Escalons in der Hand hielt.
Lorna war dankbar am Leben zu sein. Sie wusste, dass sie und Merk ein schicksalhaftes Ende genommen hätten, wären die Männer der verlorenen Inseln nicht aufgetaucht. Dennoch fühlte sie auch eine Welle der Schuld für diejenigen, die nicht überlebt hatten. Was sie am meisten schmerzte war, dass sie es nicht hatte kommen sehen. Ihr ganzes Leben hatte sie alles vorhersehen können, die ganzen Windungen und Biegungen ihres einsamen Lebens als sie den Turm von Kos bewacht hatte. Sie hatte die Ankunft der Trolle vorhergesehen, hatte Merks Ankunft vorhergesehen und hatte die Zerstörung des Flammenschwerts gesehen. Sie hatte den großen Kampf auf der Insel Knossos vorhergesehen – aber nicht seinen Ausgang. Sie hatte nicht gesehen, wie die Insel in Flammen stand und auch nicht diese Drachen. Sie zweifelte an ihren eigenen Kräften und das ärgerte sie mehr als alles andere.
Wie konnte das passieren? wunderte sie sich. Die einzige Antwort, die es darauf gab war, dass sich das Schicksal Escalons von Moment zu Moment änderte. Was seit tausenden von Jahren geschrieben worden war, wurde nun ungeschrieben. Das Schicksal Escalons fühlte sie, war nun ausgeglichen, war nun formlos.
Lorna spürte alle Blicke des Schiffes auf sich gerichtet, alle wollten wissen, wo es als Nächstes hinging, was das Schicksal nun für sie bereit hielt; als sie sich von der brennenden Insel entfernten. Die ganze Welt brannte im Chaos und sie suchten alle bei ihr nach einer Antwort.
Während Lorna so da stand, schloss sie ihre Augen und langsam konnte sie spüren wie eine Antwort in ihr aufstieg und ihr mitteilte wo sie am meisten gebraucht wurden. Irgendetwas verdunkelte ihre Vision dennoch. Erschrocken erinnerte sie sich. Thurn.
Lorna öffnete die Augen und suchte das Wasser unter sich und jeden vorbeitreibenden Körper ab. Es war ein Meer aus Körpern, welches gegen den Rumpf schlug. Auch die anderen Seemänner hatten bereits seit Stunden die Gesichter mit ihr abgesucht und dennoch waren sie nicht erfolgreich gewesen.
„Meine Herrin, das Schiff wartet auf Euer Kommando“, stupste Merk sie sanft an.
„Wir haben die Gewässer seit Stunden durchsucht“, fügte Sovos hinzu. „Thurn ist tot. Wir müssen ihn gehen lassen.“
Lorna schüttelte mit dem Kopf.
„Ich fühle, dass er es nicht ist“, konterte sie.
„Ich wünsche mir mehr als jeder andere, dass es so wäre“, antwortete Merk. „Ich verdanke ihm mein Leben. Er hat uns vom Atem der Drachen gerettet. Dennoch sahen wir wie er Feuer fing und ins Meer fiel.“
„Dennoch haben wir ihn nicht sterben gesehen“, antwortete sie.
Sovos seufzte.
„Selbst wenn er irgendwie diesen Fall überlebt hätte, meine Dame“, fügte Sovos hinzu, „diese Strömungen hätte er nicht überleben können. Wir müssen ihn loslassen. Unsere Flotte braucht eine Richtung.“
„Nein“, sagte sie entschlossen und ihre Stimmung schwang vor Autorität. Sie konnte sie in sich aufkommen spüren, eine Vorahnung, ein Kribbeln zwischen den Augen, das ihr sagte, dass Thurn irgendwo da unten am Leben war, irgendwo zwischen den Trümmern und zwischen den tausenden treibenden Körpern.
Lorna suchte das Wasser ab, wartete, hoffte und lauschte. Sie schuldete ihm wenigstens das und sie wandte einem Freund niemals den Rücken zu. Die Todesbucht war unheimlich still. Alle Trolle waren tot, die Drachen verschwunden und dennoch hatte sie ein eigenes Geräusch: Das unaufhörliche Wehen des Windes, das Spritzen der weißen Brandung, das Knarren ihres Schiffes, das unaufhörlich hoch und runter geschaukelt wurde. Als sie lauschte wurden die Böen des Windes noch erbitterter.
„Ein Sturm kommt auf, meine Herrin“, sagte Sovos schließlich. „Wir müssen Segel setzen. Wir brauchen Anweisungen.“
Sie wusste, dass sie Recht hatten. Und dennoch konnte sie nicht aufhören.
Genau in dem Moment als Sovos seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, durchfuhr Lorna auf einmal eine Welle der Aufregung. Sie lehnte sich nach vorne und erspähte etwas in der Entfernung, schaukelnd im Wasser und von der Strömung in Richtung ihres Schiffes getragen. Sie fühlte ein Kribbeln in ihrem Magen und sie wusste er war es.