Ein Reich der Schatten - Морган Райс 5 стр.


Merk spürte, dass sie mit ihren durchscheinenden Augen, ihrer zu blassen Erscheinung und unerschütterlichen Haltung von einer anderen Art war. Aber wer war dann ihre Mutter? Warum war sie alleine gelassen worden, um das Schwert der Flammen und den Turm von Kos zu bewachen? Wo war ihr Volk?

Und am meisten drängte es ihn zu wissen, wo sie ihn jetzt hinführte.

Eine Hand am Steuer lenkte sie das Schiff tiefer in die Bucht hinein, zu einem Ziel, welches Merk nicht kannte und sich nur vorstellen konnte.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wohin wir fahren“, sagte er mit lauter Stimme, um den Wind zu übertönen.

Eine lange Stille kam auf, so lang, dass er unsicher war, ob sie überhaupt noch antworten würde.

„Dann sag mir zumindest deinen Namen“, fügte er hinzu als er realisierte, dass sie ihm nie gesagt hatte wie sie hieß.

„Lorna“, sagte sie.

Lorna. Ihm gefiel der Klang.

„Die drei Dolche“, fügte sie hinzu und drehte sich zu ihm. „Dahin  fahren wir.“

Merk erstarrte.

„Die drei Dolche?“ fragte er überrascht.

Sie schaute bloß weiter geradeaus.

Merk jedoch war erstaunt über diese Neuigkeit. Die drei Dolche waren die abgelegensten Inseln ganz Escalons und so tief in der Todesbucht gelegen, dass er niemanden kannte der tatsächlich schon einmal dorthin gereist war. Knossos, die legendäre Festung und Insel, war die letzte der Inselgruppe und es hieß, dass dort Escalons kämpferischste Krieger lebten. Es waren Männer, die auf der kargsten Insel, auf der trostlosen Inselgruppe im gefährlichsten Meer, das existierte lebten. Es hieß es waren Männer, die genauso rau waren wie das Meer, welches sie umgab. Merk hatte noch nie einen von ihnen getroffen. Niemand hatte das. Sie waren mehr eine Legende als dass sie wirklich existierten.

„Haben sich deine Wächter dorthin zurückgezogen?“ fragte er.

Lorna nickte.

„Sie erwarten uns jetzt“, sagte sie.

Merk drehte sich um und schaute über seine Schulter, er wollte einen letzten Blick auf den Turm von Kos erhaschen. In dem Moment in dem er dies tat blieb ihm bei dem Anblick fast das Herz stehen: Da, am Horizont waren dutzende von Schiffen mit aufgeblasenen Segeln, die sie verfolgten.

„Wir haben Gesellschaft“, sagte er.

Zu seiner Überraschung drehte sich Lorna nicht einmal um, sondern nickte bloß.

„Sie werden uns bis zum Ende der Welt verfolgen“, sagte sie ruhig.

Merk war überrascht.

„Auch wenn sie bereits das Flammenschwert haben?“

„Es war nie das Schwert hinter dem sie her waren“, berichtigte sie. „Es war die Zerstörung. Das Vernichten von uns allen.“

„Und wenn sie uns einholen?“ fragte Merk. „Wir können nicht alleine eine ganze Armee von Trollen bekämpfen. Und auch eine kleine Insel aus Kriegern, egal wie mutig sie sind, kann das nicht.“

Sie nickte immer noch unbeeindruckt.

„Wir könnten tatsächlich sterben“, antwortete sie. „Aber wir werden es in der Gesellschaft der Wächter tun und für unsere Wahrheit kämpfen. Es gibt noch viele Geheimnisse, die bewacht werden müssen.“

„Geheimnisse?“ fragte er.

Aber sie blieb nur still und beobachtete das Meer.

Er war kurz davor ihr noch mehr Fragen zu stellen, als ein plötzlicher Windstoß das Schiff fast zum kentern brachte. Merk fiel auf den Bauch und schlug gegen die eine Seite des Rumpfs und rutschte über den Rand.

Baumelnd klammerte er sich mit aller Kraft an die Reling und als seine Beine ins eiskalte Wasser eintauchten, realisierte er, dass er darin erfrieren würde. Er konnte sich nur mit einer Hand festhalten, er war schon fast komplett im Wasser. Er sah über die Schulter und sein Herz setzte für einen Moment aus, denn er konnte bereits einen Schwarm roter Haie ausmachen, die sich ihm langsam näherten. Er fühlte einen schlimmen Schmerz als sich Zähne in seine Wade bohrten und sah Blut im Wasser. Er wusste es war seins.

Einige Augenblicke später trat Lorna nach vorne und berührte mit ihrem Stab die Wasseroberfläche. Weißes, blendendes Licht breitete sich über der Oberfläche aus und die Haie verschwanden. In derselben Bewegung ergriff sie seine Hand und zog ihn zurück aufs Schiff.

Das Schiff korrigierte seine Position selbst als der Wind aufkam und Merk saß frierend, nass und schwer atmend mit einem schlimmen Schmerz in der Wade auf dem Deck.

Lorna untersuchte seine Wunde und riss ein Stück Stoff aus ihrem Hemd und wickelte es um sein Bein, um Blut zu stauen.

„Du hast mein Leben gerettet“, sagte er dankbar. „Es gab dutzende von diesen Dingern da drin. Sie hätten mich umgebracht.“

Sie sah ihn an. Ihre hellblauen Augen waren groß und hypnotisierend.

„Diese Kreaturen sind hier deine kleinsten Sorgen“, sagte sie.

Sie fuhren schweigend weiter. Merk kam langsam wieder auf die Beine und beobachte den Horizont. Diesmal hielt er sich mit beiden Händen fest an der Reling fest. Er studierte den Horizont, aber so sehr er auch schaute, die drei Dolche waren nirgendswo zu sehen. Er sah nach unten und beobachtete das Wasser der Todesbucht mit neuem Respekt und Angst. Er sah sich vorsichtig um und entdeckte Schwärme von roten Haien unter der Oberfläche. Sie waren unter den Wellen kaum auszumachen. Er wusste nun, dass ins Wasser zu fallen lebensgefährlich war – und er konnte nicht anders als sich zu fragen, welche anderen Kreaturen hier noch lebten.

Die Stille wurde tiefer und nur vom Heulen des Windes unterbrochen und als Stunde um Stunde verging hatte Merk das dringende Bedürfnis zu reden.

„Ich habe so etwas noch nie gesehen. Dass, was du mit deinem Stab gemacht hast.“

Lorna blieb ausdruckslos und beobachtete weiter den Horizont.

„Erzähl mir etwas über dich“, presste er hervor.

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder zum Horizont.

„Was würdest du denn gerne wissen?“ fragte sie.

„Egal was“, antwortete er. „Alles.“

Lange blieb sie still, dann sagte sie endlich:

„Fang du an.“

Merk sah sie überrascht an.

„Ich?“ fragte er. „Was willst du wissen?“

„Erzähl mir über dein Leben“, sagte sie. „Alles was du mir erzählen willst.“

Merk atmete tief ein und drehte sich in Richtung des Horizonts. Sein Leben war das Einzige worüber er nicht reden wollte.

Und dann, als er realisierte, dass sie noch eine lange Reise vor sich hatten, seufzte er. Er wusste, dass er sich seinem gelebten Leben irgendwann stellen musste, auch wenn er nicht stolz darauf war.

„Ich bin den Großteil meines Lebens ein Mörder gewesen“, sagte er langsam und bereute es. Seine Stimme war ernst und voller Selbsthass. „Ich bin nicht stolz darauf. Aber ich war der Beste darin. Ich erfüllte Aufträge für Könige und Königinnen. Niemand war fähiger und besser als ich.“

Merk wurde still, er war gefangen von den Erinnerungen seines Lebens, die er bereute. Erinnerungen, an die er lieber nicht erinnert wurde.

„Und jetzt?“ fragte sie sanft.

Merk war dankbar als er im Gegensatz zu sonst, wenn er über sein Leben sprach, keine Wertung in ihrer Stimme wahrnahm. Er seufzte.

„Jetzt tue ich das nicht mehr. Das bin ich nicht mehr. Ich habe geschworen auf Gewalt zu verzichten. Und mir und meinen Diensten einen Sinn zu geben und für unser Recht und unser Ziel zu kämpfen. Aber es scheint, dass ich nicht davor weglaufen kann. Gewalt scheint mich immer zu finden. Es scheint, dass es immer einen neuen Grund gibt.“

„Und was ist dein Ziel?“ fragte sie.

Er dachte darüber nach,

„Ursprünglich war mein Ziel ein Wächter zu werden“, antwortete er. „Mich und meine Dienste in den Service zu stellen und den Turm von Ur zu bewachen und das Flammenschwert zu schützen. Als dieser dann fiel hatte ich das Gefühl den Turm von Kos erreichen und das Schwert retten zu müssen.“

Er seufzte.

„Und hier sind wir nun und segeln durch die Todesbucht, ohne Schwert, verfolgt von Trollen auf dem Weg zu einer unfruchtbaren Inselkette“, antwortete sie mit einem Lächeln.

Merk runzelte die Stirn.

„Ich habe mein Ziel verloren“, sagte er. „Den Sinn meines Lebens. Ich kenne mich selber nicht mehr. Ich weiß nicht in welche Richtung es geht.“

Lorna nickte.

„Das ist ein guter Ort zum Verweilen“, sagte sie. „Ein unsicherer Ort ist auch ein Ort voller Möglichkeiten.“

Merk beobachtete sie erstaunt. Er war ergriffen von ihrer fehlenden Verurteilung. Jeder andere, der diese Geschichte hörte, würde ihn verschmähen.

„Du verurteilst mich gar nicht“, bemerkte er geschockt, „dafür, wer ich bin.“

Lorna starrte ihn an, ihre Augen waren so intensiv wie der Mond.

„Dieser Mensch warst du einmal“, korrigierte sie ihn. „Aber das ist nicht das, was du jetzt bist. Wie kann ich dich verurteilen für etwas, was du einmal warst? Ich beurteile nur den Mann, der jetzt vor mir steht.“

Merk fühlte sich dank ihrer Antwort wie ein neuer Mensch.

„Und wer bin ich jetzt?“ fragt er. Er wollte die Antwort so gerne wissen, er war sich seiner nicht sicher.

Sie starrte ihn an.

„Ich sehe einen guten Krieger“, antwortete sie. „Einen selbstlosen Mann, der anderen helfen will. Und ein Mann mit Sehnsucht. Ich sehe einen Mann, der verloren ist. Ein Mann, der sich selbst nie gekannt hat.“

Merk sinnierte über ihre Worte nach und sie hallten in ihm wieder. Es war alles wahr. Zu wahr.

Es folgte eine lange Stille und ihr kleines Schiff fuhr die Wellen hoch und runter und bewegte sich langsam weiter in Richtung Westen. Merk sah sich um, aber die Troll-Flotte war immer noch am Horizont zu sehen. Glücklicherweise waren sie noch ausreichend weit entfernt.

„Und du?“ fragte er schließlich, „Du bist doch Tarnis Tochter oder nicht?“

Sie suchte den Horizont ab, ihre Augen glänzten und endlich nickte sie.

„Das bin ich“, antwortete sie.

Merk war verwundert dies zu hören.

„Aber warum bist du hier?“ fragte er.

Sie seufzte.

„Ich wurde schon seitdem ich ein kleines Mädchen war hier versteckt.“

„Aber warum?“ fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich vermute, dass es zu gefährlich in der Stadt für mich war. Die Menschen durften nicht wissen, dass ich die uneheliche Tochter des Königs war. Es war hier sicherer.“

„Hier war es sicherer?“ fragte er. „Am Ende der Welt?“

„Ich wurde hierhergebracht um ein Geheimnis zu hüten.“ erklärte sie. „Ein Geheimnis, noch wichtiger als das gesamte Königreich Escalon.“

Sein Herz klopfte, er fragte sich, was es wohl war.

„Wirst du es mir erzählen?“ fragte er.

Aber Lorna drehte sich nur langsam um und zeigte nach vorne. Merk folgte ihrem Blick und erkannte dort am Horizont die drei unfruchtbaren Inseln, die aus dem Ozean ragten. Die letzte war eine solide Steinfestung. Es war der abgelegenste und doch schönste Ort, den Merk jemals gesehen hatte. Es war ein Ort, der weit genug weg von allem war, um alle Geheimnisse von Magie und Macht zu halten.

„Willkommen auf Knossos“, sagte Lorna.

KAPITEL NEUN

Duncan rannte alleine durch die Straßen von Andros. Er humpelte vom Schmerz in seinen Fuß- und Handgelenken. Er ignorierte es und wurde vom Adrenalin angetrieben und konnte nur noch an eins denken: Kyra zu retten. Ihr Hilfeschrei hallte in seinem Kopf und seiner Seele wider und ließ ihn seine Wunden vergessen während er schwitzend durch die Straßen in Richtung des Geräusches rannte.

Duncan bahnte sich seinen Weg durch die schmalen Gassen von Andros und wusste, dass  sich Kyra ganz nah hinter den dicken Steinwällen befand. Überall um ihn herum tauchten die Drachen hinab und setzten eine Straße nach der anderen in Brand. Die starke Hitze wurde von den Wänden reflektiert, es war so heiß, dass Duncan es sogar auf der anderen Seite des Steines spüren konnte. Er hoffte und betete, dass die Drachen nicht in diese Gasse hineinfliegen würden – denn sonst wäre er erledigt.

Duncan hielt trotz des Schmerzes nicht an. Oder drehte sich herum. Er konnte es nicht. Vom väterlichen Instinkt geleitet, konnte er nirgendswo anders hin, als in die Richtung seiner Tochter. Es durchfuhr ihn kurz, dass er in seinen Tod rannte und jegliche Chance auf Flucht verlor, und doch wurde er nicht langsamer. Seine Tochter war eingeschlossen und das war alles was zählte.

„NEIN!“ erklang der Schrei.

Duncan standen die Haare zu Berge. Und da war es wieder. Sie schrie und sein Herz setzte bei dem Geräusch einen Moment aus. Er rannte noch schneller, so schnell er konnte und bog dann in eine weitere Gasse ab.

Endlich, als er sich wieder umdrehte und durch einen niedrigen Steinbogen stürzte, öffnete sich der Himmel vor ihm.

Duncan fand sich in einem Hinterhof wieder und als er sich umsah war er wie benommen. Am anderen Ende des Hofes loderten Flammen und Drachen flogen kreuz und quer durch die Luft und spien immer wieder Feuer. Aber unter einer Steinkante, kaum vorm Feuer geschützt, saß seine Tochter.

Kyra.

Da war sie, wahrhaftig und am Leben.

Was noch schockierender war, als sie hier lebend vorzufinden, war der Babydrache, der neben ihr lag. Duncan starrte verwirrt auf die Szene. Zuerst vermutete er, dass Kyra Mühe hatte einen vom Himmel gestürzten Drachen zu töten. Aber dann sah er, dass der Drache unter einem Felsen eingeklemmt war. Er beobachte verblüfft wie Kyra versuchte den Felsen wegzurollen. Was, fragte er sich, versuchte sie da? Einen Drachen zu befreien? Aber warum?

„Kyra!“ schrie er.

Duncan rannte durch den offenen Hof, wich Feuersäulen und Drachenkrallen aus und rannte bis er schließlich an der Seite seiner Tochter ankam.

Als ihn Kyra erblickte wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von Schock zu Freude.

„Vater!“ schrie sie.

Sie rannte in seine Arme und Duncan umarmte sie. Als er sie in seinen Armen hielt, spürte er wie er wieder erfüllt wurde, so als ob ein Teil seiner selbst zurückgekommen war.

Tränen der Freude rannen ihm die Wangen hinunter. Er konnte kaum glauben, dass Kyra wirklich hier und am Leben war.

Er umklammerte sie und sie umklammerte ihn und er war so erleichtert, als er merkte, dass sie unverletzt war.

Sich an den Drachen erinnernd, schob er sie von sich weg, drehte sich zum Drachen, zog sein Schwert, hob es in die Luft und war kurz davor dem Drachen den Kopf abzuschlagen, um seine Tochter zu beschützen.

„Nein!“ schrie Kyra.

Sie verblüffte Duncan, als sie nach vorne stürzte und sein Handgelenk umklammerte. Ihr Griff war überraschend fest und sie hielt ihn zurück. Sie war nicht mehr die sanftmütige Tochter, die er in Volis zurückgelassen hatte; sie war jetzt offensichtlich eine Kriegerin.

Duncan sah sie verdutzt an.

„Tu ihm nicht weh“, befahl sie mit sicherer Stimme, der Stimme eines Kriegers. „Theon ist mein Freund.“

Duncan sah sie verdutzt an.

„Dein Freund?“ fragte er. „ Ein Drache?“

„Bitte, Vater, sagte sie. „Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Hilf uns. Er ist eingeklemmt und ich bekomme den Felsen alleine nicht hinunter.“

Duncan, so geschockt er auch war, vertraute ihr. Er steckte sein Schwert in die Scheide, stellte sich neben sie und drückte mit aller Kraft gegen den Felsen. Und doch bewegte sich dieser kaum.

„Er ist zu schwer“, sagte er. „Ich schaffe es nicht. Es tut mir leid.“

Auf einmal ertönte das Klappern von Eisen hinter ihm. Duncan drehte sich um und war überglücklich als er Aidan, Anvin, Cassandra und Fynn sah. Sie waren wieder einmal zurückgekommen um ihre Leben für ihn aufs Spiel zu setzen.

Ohne zu Zögern kamen sie alle angerannt und drückten gemeinsam gegen den Felsen.

Er bewegte sich ein bisschen, aber sie konnten ihn immer noch nicht wegrollen.

Ein keuchendes Geräusch ertönte. Duncan drehte sich wieder um und sah wie Motley sich beeilte mit den anderen mitzuhalten. Er war völlig außer Atem. Er schloss sich ihnen an und warf sein gesamtes Gewicht gegen den Felsen – und dieses Mal fing er wirklich an sich zu bewegen. Motley, der Schauspieler, der übergewichtige Narr, der von dem sie es am wenigsten erwartet hatte, war die letzte Kraft, die noch gefehlt hatte, um den Drachen vom Felsen zu befreien.

Назад Дальше