Riley rief beinahe laut aus…
Wir haben doch bereits an drei Mordfällen miteinander zusammengearbeitet!
Aber es fiel ihr ein, dass in diesen früheren Fällen sehr viel Spannungen zwischen ihnen herrschte. Und auch war sie damals keine Agentin.
Vielleicht hatte Agent Crivaro recht.
Vielleicht brauchten sie ein wenig Zeit sich an die Zusammenarbeit in ihren neuen Rollen zu gewöhnen. Aber war dieser inoffizielle und womöglich sogar nicht bestehende Fall wirklich der beste Zeitpunkt dazu?
Sie fragte: »Wer zahlt denn für diesen Einsatz eigentlich?«
»Ich zahle, in Ordnung?«, murrte Crivaro. »Natürlich werde ich die Kosten rückerstattet bekommen, sollte es sich als ein echter Fall herausstellen.«
Riley sagte: »Also, du teilst mir was mit? Dass wir uns auf einer Art Urlaub miteinander befinden?«
Crivaro schmunzelte unbeholfen: »Hey, das Wetter in Arizona ist zu dieser Jahreszeit sicherlich viel angenehmer als in Virginia. Du brauchst dich für den Ortswechsel bei mir nicht zu bedanken.«
»Ich finde es nicht lustig«, sagte Riley, während sie sich bemühte ihrer gefühlten Irritation keinen Ausdruck zu verleihen. »Du hättest mir zumindest von Anfang an sagen können worum es sich hier eigentlich handelt.«
Sich verteidigend, sagte Crivaro: »Also, offensichtlich war ich in Eile. Und auch würdest du sowieso keine Arbeit in Quantico während meiner Abwesenheit zu verrichten haben. Deshalb ist es besser, dass du mich begleitest und zumindest versuchst nützlich zu sein. Wir werden eine Untersuchung durchführen während wir dort sind. Es könnte sich auch als gute Lernerfahrung für dich herausstellen. Also worin besteht das Problem?«
»Ich sage dir, worin das Problem liegt«, antwortete Riley. »Ich habe einen Verlobten zu Hause der sauer auf mich ist, weil ich mich so plötzlich aus dem Staub gemacht habe. Glaubst du, er wird sich weniger ärgern, wenn er hört, dass ich nicht einmal an einem echten Fall arbeite?«
Crivaro seufzte schuldbewusst: »Und du wirst es im so mitteilen?«
Riley machte ein bestürztes Gesicht. Sie hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen, Ryan etwas von ihren Tätigkeiten während sie weg war zu verschweigen.
»Natürlich!«, schimpfte sie.
»Dann tut es mir leid«, sagte Crivaro. »Ich vermute, du hast recht. Ich hätte dich zuerst fragen sollen.«
»Ja, das denke ich auch.«
Crivaro sah sie jetzt teilnahmsvoll an und sagte: »Schau, wenn du mit dieser Sache nichts zu tun haben möchtest, ich kann’s verstehen. Sobald wir in Phoenix gelandet sind, kannst du den ersten Flug zurück nehmen, wenn du möchtest. Ich zahle auch für das Ticket. Möchtest du das?«
Riley fühlte sich erneut überrascht über dieses Angebot und sie wusste nicht, wie sie antworten sollte.
Soll ich das Angebot annehmen? wunderte sie sich.
Einen Augenblick lang erschien die Antwort offensichtlich. Crivaro hatte kein Recht dazu sie quer durch die Vereinigten Staaten zu schleppen, um einen zwecklosen Auftrag zu erledigen. Und der unverzügliche Rückflug nach Hause wäre ein guter Weg das Verhältnis mit Ryan wieder auszubügeln – besonders, wenn es sich herausstellen sollte, dass sie noch einen oder zwei freie Tage bekommen würde, bevor sie wieder zur Arbeit in Quantico antreten müsste. Es könnte sich als genau das herausstellen, was ihre Beziehung brauchte.
Dann klang ihr aber plötzlich wieder seine verärgerte Stimme im Ohr, als er sie über das Handy fragte…
»Was ist mit meinem Auto? Wie lange werde ich ohne es auskommen müssen?«
Riley erstarrte vor Verärgerung.
Dieses blöde Auto, dachte sie.
Ohne das Auto auskommen zu müssen erschien Ryan schwieriger zu fallen, als ohne sie auskommen zu müssen.
Es machte sie wirklich stinksauer.
Auf einmal war sie nicht mehr in Stimmung dazu, die Sache mit Ryan wieder auszubügeln. Und soweit es um Crivaro ging…
Also, zumindest zeigt er Interesse an mir.
Zudem hatte Crivaro bei einer Sache recht. Sie würden sicherlich eine Untersuchung durchführen, selbst wenn es nur darum ginge herauszufinden, dass es nichts zu untersuchen gab. Es könnte sich dennoch als gute Erfahrung herausstellen. Vielleicht lernt sie dabei auch was.
Endlich sagte Riley: »Es geht Ordnung. Ich gehe mit dir mit.«
Crivaros Augen wurden hell.
»Bist du dir sicher?«, fragte er.
Riley schmunzelte ein wenig und antwortete: »Ich lass es dich wissen, sollte sich meine Meinung ändern.«
Crivaro grinste: »Also dann, das Angebot steht immer noch, solltest du dich aus dem Staub machen wollen. Zumindest, soweit es sich um diesen Ausflug handelt. Aber wenn wir dann anfangen an echten Fällen zu arbeiten, dann kommst du nicht mehr von mir davon.«
»Ich werde es im Hinterkopf behalten«, sagte sie.
Crivaro lehnte sich zurück in seinen Stuhl und schloss die Augen. Offensichtlich wollte er ein Nickerchen machen.
Riley nahm sich ein Magazin aus dem Sitzfach vor ihr und fing an es durchzublättern.
Sie war dabei sich zu überdenken, was gerade hier abgelaufen war.
Ich habe meine Arbeit über Ryan gestellt.
Und sie war überrascht festzustellen, dass sie kein schlechtes Gewissen dabei hatte.
Was sagt das über mich aus? wunderte sie sich. Und über unsere Zukunft?
Dann fingen ihre Gedanken an, sich um die Gegenwart zu drehen.
Arizona.
Sie wusste nicht wirklich viel über diesen Staat.
Sie hat den Großteil ihres Lebens in den grünen Hügellandschaften Virginias verbracht. Welche Überraschungen würde wohl ein solch andersartiger Staat für sie bereithalten?
Kapitel fünf
Als der Flieger in Phoenix landete, zogen Riley und Crivaro ihr Sachen aus den Gepäckfächern über ihren Köpfen und machten sich auf den Weg über die Landungsbrücke zum Flughafengebäude. Ungefähr zwanzig Leute warteten auf die Passagiere des Fluges, aber es bestand kein Zweifel daran, wer auf sie warten würde.
Ein herzlich dreinschauender Kerl mit rötlichem Gesichtsausdruck winkte Crivaro energisch zu. Riley wusste, dass es sich um Harry Carnes handeln müsse. Die gleichermaßen stämmige Frau, die mit verschränkten Armen und einem finster dreinblickendem Gesichtsausdruck neben ihm Stand, musste Harrys Ehefrau sein. Sie sah im Moment überhaupt nicht glücklich aus.
Der Mann begrüßte Crivaro mit einer festen Umarmung und Crivaro stellte Riley dem Paar vor. Der Name der Frau war Jillian. Riley schätzte, dass sie beide ungefähr in Crivaros Alter sein mussten, oder vielleicht auch ein wenig älter.
Einen Augenblick lang war sie erstaunt, dass beide in T-Shirt, kurzen Hosen und Sandalen gekleidet vor ihnen standen. Sie und Crivaro hatten immer noch ihre Jacken und für kälteres Wetter vorgesehene Sachen an.
»Gepäck?«, fragte Harry, während er ihre Outfits betrachtete.
»Nur das hier«, erwiderte Jake und hielt seinen Rucksack hoch.
Harry lachte und sagte: »Na dann, das werdet ihr schon noch früh genug regeln können.«
Ihr gingen Crivaros während des Flugs geäußerten Worte durch den Kopf.
»Das Wetter in Arizona ist zu dieser Jahreszeit sicherlich viel angenehmer als in Virginia.«
Sie war definitiv nicht auf das Wetter hier vorbereitet. Sie waren in solch großer Eile loszufahren, dass sie keine Zeit hatte daran zu denken andere Kleidung einzupacken. Sie wunderte sich, ob sie sich neue Sachen kaufen müsse. Ihr Finanzlage würde sicherlich keine großen Anschaffungen verkraften können.
Vielleicht wird es auch nicht notwendig sein, dachte sie. Wenn sie sich bald auf den Rückweg nach Quantico begeben würden, dann würde sie wahrscheinlich mit dem, was sie dabei hatte, auskommen können.
Harry ging voraus zur nächstgelegenen Imbissbude, wo sie sich an einen Tisch setzten und Sandwiches zum Mittagessen bestellten.
Crivaro sagte zu Harry: »Also, hier bin ich. Jetzt erzähl mir alles, was du weißt.«
Harry zuckte mit den Schultern: »Ich weiß nicht viel, außer was ich dir schon über das Telefon mitgeteilt habe. Die Leiche einer Frau wurde gestern an einem Wanderpfad in der Nähe von Tunsboro aufgefunden. Der Ort liegt nördlich von hier. Ihr Name war Brett Parma. Als ich über die Nachrichten davon erfuhr, wurde ich neugierig und ich rief den Polizeichef in Tunsboro an. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten ihn zum Reden zu bringen, aber es gelang mir einige wenige Informationen aus ihm herauszulocken. Er erwähnte die Schnitte an den Armen der Frau – und auch, dass sie woanders zu Tode ausgeblutet war, bevor ihre Leiche am Pfad hinterlassen worden war. Dann forderte er mich im Grunde auf, mich aus seiner Untersuchung herauszuhalten.«
»Was wir auch tun wollten«, gab Jillian hinzu.
Harry lehnte sich über den Tisch zu Crivaro: »Jake, ich hatte ein seltsames Gefühl dabei. Es war alles genau wie beim Mordfall von Erin Gibney ein Jahr zuvor. Mir kamen die Rückblicke zu Situationen von damals, als ich versuchte den Polizisten in Gladwin beim Lösen des Falls zu helfen, aber dabei scheiterte.«
Harry murmelte mit gesenktem Blick: »Wir kamen damals nicht einmal annähernd an den Täter ran.«
Jillian seufzte unzufrieden und sagte zu Crivaro: »Harry plagen die Schuldgefühle zu dieser ganzen Sache. Er meint, hätte er den Fall damals in Colorado gelöst, dann wäre dieser neue Mord gar nicht erst passiert. Natürlich ist es Unfug. Jake, kannst du ihn zur Vernunft bringen? Sag ihm, dass er keinen Grund hat sich was vorzuwerfen.«
Crivaro starrte Harry teilnahmsvoll an.
Er sagte: »Jillian hat recht. Du darfst dich deswegen nicht fertig machen. Selbst wenn ein Zusammenhang zwischen den beiden Morden bestehen sollte–«
Harry unterbrach ihn: »Jake, es besteht ein Zusammenhang. Ich kann es in meinen Knochen spüren.«
Riley konnte große Skepsis in Crivaros Gesichtsausdruck erkennen.
»Harry, ich habe an viel mehr Mordfällen als du gearbeitet«, sagte Crivaro. »Ich weiß wie es sich anfühlt, sich verantwortlich für die Morde zu fühlen, weil man nicht in der Lage ist den Mörder zu fassen. Aber du darfst dich nicht von diesem Gefühl überwältigen lassen.«
Er streckte seine Hand aus und legte sie auf den Arm seines Freundes.
»Du hast niemanden ermordet, Harry. Du bist nicht dafür verantwortlich. Du trägst keine Schuld. Hörst du, was ich dir sage?«
Harry stoß einen langen, bitteren Seufzer aus. Dann sagte er zu Jake und Riley: »Nun ja, ich war lange genug Polizeibeamter, um dies zu wissen. Wir haben sie nie alle lösen können. Aber, ich war auch lange genug im Amt um zu erkennen, wann meine polizeilichen Instinkte mich wahrscheinlich auf die richtige Fährte führen würden. Dieser letzte Mordfall löste wirklich einen Alarm bei mir aus.«
Er legte sein zur Hälfte gegessenes Sandwich auf den Teller zurück und schob es von sich.
»Ich bin froh, dass ihr zwei kommen konntet, um die Sache zu überprüfen«, fuhr er fort. »Es lässt mich viel besser schlafen. Esst fertig und ich fahre euch nach Tunsboro.«
Jillian stieß ihn in den Arm und sagte fast flüsternd: »Warte einen Augenblick, Harry. Du fährst niemanden nirgends hin. Wir müssen erst zurück zum Campingplatz.«
Harry warf seiner Frau einen bittenden Blick zu.
»Ach, komm schon, Liebes«, flüsterte er ihr zu. »So sehr eilt es nicht. Und Tunsboro ist nur eine kurze Fahrt von hier entfernt.«
»Sie können auch einen Wagen mieten«, sagte Jillian. »Wir hatten eine Abmachung, erinnerst du dich.«
Harry schaute verlegen. Riley wunderte sich, was denn zwischen ihnen los war. Sie sah, dass sich Crivaro unsicher war, was er als Nächstes sagen sollte.
Endlich sah Jillian Jake mit ernsthaftem Blick an und sagte…
»Harry wird sich nicht in diese – diese – was auch immer es ist, einlassen. Er befindet sich im Ruhestand. Wir sind hier auf Urlaub. Ich will nicht, dass er sich wieder wegen diesem Erin Gibney Mordfall aufregt. Letztes Mal war er deswegen einen Monat lang ein unglückliches Wrack. Ich dachte, wir hatten die Sache endlich hinter uns gelassen.«
Harry nickte zögernd und sagte zu Riley und Crivaro leicht lächelnd: »Also, ihr habt gehört, was die Dame zu sagen hatte. Sie hält mich an einer straffen Leine. Ich wünschte, ich könnte mit euch mitkommen, aber so sieht es nun mal aus. Wir haben einen Reiseplan. Wir machen uns noch heute auf den Weg zum Coronado National Forest. Wir haben eine Reservierung beim Riggs Flat Campingplatz.«
»Und wir werden nicht absagen«, fügte Jillian scharfzüngig hinzu. »Komme, was da wolle.«
Harry drückte ihre Hand und sagte: »Natürlich nicht, Liebste. Aber wir haben genug Zeit dazu die beiden zur Polizeiwache in Tunsboro zu fahren. Dann können wir zurück zum Campingplatz fahren und uns dort abmelden. Dies ist das Mindeste, was wir für sie tun können, nachdem sie sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht haben.«
Jillian starrte Harry streng an: »Gut – solange du mir versprechen kannst, dass du deine Meinung nicht unterwegs ändern wirst.«
Harry hob unbeholfen seine rechte Hand.
»Ich verspreche es«, sagte er und drückte ihr schnell einen Kuss an die Wange.
Jillian lächelte und machte einen beruhigten Eindruck. Sie drohte Crivaro mit dem Finger und sagte…
»Und wage es du ja nicht zu versuchen ihn umzustimmen!«
»Es fällt mir nicht ein«, sagte Crivaro kichernd.
Das Paar erschien jetzt viel entspannter. Harry griff sogar sein Sandwich wieder auf und unterhielt Riley und Crivaro durch leichtes Geplauder während sie weiter aßen. Hin und wieder gab Jillian ein paar Details hinzu oder korrigierte ihn.
Harry und Jillian waren vor kurzem zum ersten Mal Großeltern geworden und ihre jüngste Tochter hatte neulich ihre Hochzeit. Wie es für diese Jahreszeit üblich war, war das Wetter in Colorado zu kalt für ihren Geschmack. Und so machten sie sich, wie fast jeden Winter, mit ihrem Wohnmobil auf in den warmen Südwesten, wo sie von Campingplatz zu Campingplatz zogen.
Harry zeigte Riley und Crivaro stolz ein Bild ihrer Camping-Anlage – ein ziemlich großer Wohnwagen der von einem weißen Laster gezogen wurde. Harry nannte die Anlage »unser zweites Zuhause«.
Wie das Geplauder seinen Gang nahm, bemerkte Riley einen wehmütigen Ausdruck in Crivaros Gesicht.
Sie wunderte sich…
Beneidet sie Crivaro vielleicht?
Wieder fiel ihr auf, dass Crivaro und Harry ungefähr im selben Alter waren. Sie hatte sich keine Gedanken zu Crivaros Ruhestand gemacht. Ob er sich wohl darüber Gedanken machte?
Obwohl Riley vieles über ihren Mentor nicht wusste, war ihr dennoch bekannt, dass er geschieden war und einen entfremdeten Sohn hatte.
Crivaros Leben glich in Nichts dem Leben von Harry und Jillian, mit ihren engen Freunden und glücklicher Familie. Sollte er Enkel haben, würde er es zu Riley nie erwähnen. Er hatte ihr bereits gesagt, dass seine ehemalige Frau glücklich wiederverheiratet war, und das sein Sohn im Immobiliengewerbe tätig war und…
»Sie sind vollkommen normal, wie ganz gewöhnliche Leute.«
Mit einem selbstironischen Lachen fügte er hinzu…
»Vielleicht bin ich für normal einfach nicht geschaffen.«
Nicht zum ersten Mal fiel es Riley auf, dass Crivaro ein sehr einsamer Mensch sein musste.
Wenn sein Beruf das Einzige war, dass seinem Leben Sinn gab, wenn er das Gefühl hatte, dass ihm etwas im Leben entgangen sei, dann war es vollkommen normal, dass dieses glücklich verheiratete Paar melancholische Gefühle in ihm weckte.
War die Einsamkeit ein Grund dafür, dass er sie zu dieser Reise mitgebracht hatte?