Es gab Augenblick an denen Riley Crivaro mehr als ihren eigentlichen Vater empfand, als es der Fall mit dem verbitterten ehemaligen Marinesoldat, der alleine in den Bergen lebte, war. Zumindest lobte er sie manchmal für Dinge, die sie richtig machte, was mehr war, als ihr echter Vater je tat.
Sie wunderte sich…
Ob er mich wohl je als seine Tochter ansah?
Die Gruppe war fertig mit Essen und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Zu Rileys Erleichterung war das Wetter sehr angenehm. Warm, aber nicht zu warm oder zu feucht. Vielleicht würde die Kleidung, die sie mit hatte, doch ihren Zweck erfüllen können.
Sie hatte erwartet die komplette Camping-Anlage aus dem Foto anzutreffen, aber sie waren nur mit dem Laster unterwegs.
»Wo ist der Wohnanhänger?«, fragte Crivaro.
»Das ist ja gerade das Wunderbare an der Camping-Anlage«, erwiderte Jillian. »Wir können den Wohnanhänger einfach auf dem Campingplatz lassen während wir in unserem Laster umherfahren. Es mag zwar nicht allzu schick aussehen, aber praktisch ist es allemal.«
Crivaro und Harry kletterten in die Vordersitze und Riley und Jillian setzten sich auf den großen Rücksitz.
Als Harry den Flughafen verließ, fing er an sich wieder mit Crivaro zu unterhalten – welche Strecken sie fahren würden um in den Süden Colorados zu gelangen, wohin sie als Nächstes fahren wollten, welche Orte sie jeden Winter besuchten, sogar wo es gute Gaststätten entlang des Wegs zu finden gab. Riley erschien es, als stünde ihm ein unbegrenzter Vorrat an unbedeutenden Themen zum Plaudern zur Verfügung, aber Crivaro schien stillvergnügt zuzuhören, anscheinend überhaupt nicht gelangweilt.
Riley schaltete sich aus dem Gespräch aus. Sie war dankbar, dass Jillian, die neben ihr saß, keine Neigung dazu zeigte sich in ähnliches inhaltsloses Gerede zu vertiefen.
Aber dann wurde es Riley bewusst, dass sie zumindest etwas zu Jillian sagen sollte, wenn auch nur höflichkeitshalber.
Als Harry sich auf die Fernstraße begab und den Weg nach Norden einschlug, sagte Jillian: »Ich sehe, dass du verlobt bist.«
Riley überraschte diese Bemerkung, aber sie merkte schnell, dass Jillian auf ihren Verlobungsring schaute.
Sie lächelte und sagte: »Ja, das bin ich.«
Jillian fragte halb-lächelnd: »Habt ihr schon einen Hochzeitstermin festgelegt?«
Riley schluckte bei dieser Frage.
»Eigentlich, nein. Noch nicht«, antwortete sie.
In Wahrheit hatten sie und Ryan noch keine Idee, wann die Hochzeit stattfinden würde. Manchmal erschien es, als sei das Ganze wenig mehr als eine Fantasievorstellung.
»Also«, sagte Jillian: »Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt.«
Jillian drehte dann ihren Kopf und schaute zum Fenster hinaus.
Riley erschienen diese Worte sehr bedeutsam.
»Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt.«
Jillian und ihr Ehemann schienen ihr Glück gefunden zu haben. Aber Riley hatte das Gefühl als wäre ihr Glück hart errungen worden und auch, dass Harrys Arbeit als Polizeibeamter ihnen die Sache nicht leicht gemacht hatte.
Riley vertiefte sich in Überlegungen zu ihrer eigenen Zukunft.
Was wartet auf sie wohl alles noch?
Sie und Ryan funktionierten manchmal fabelhaft zusammen. Aber sie war besorgt darüber, dass auch für sie anhaltendes Glück vielleicht hart errungen werden musste.
Ob sie wohl einmal mit einer geliebten Person glücklich in den Ruhestand treten würde?
Oder würde sie alleine enden, so wie Agent Crivaro?
Riley blickte durch das Fenster auf ihrer Seite des Lasters. Eine ähnliche Landschaft wie die da draußen kannte sie bisher nur aus Bildern. Außer in den Gebieten wo Leute Gebäude errichtet hatten oder Pflanzen kultivierten, erschien ihr diese Landschaft völlig leblos.
Irgendwo, in einer ähnlichen Wüstenlandschaft, wurde eine junge Frau auf brutale Weise ihres Lebens beraubt. Ob dasselbe Monster schon früher gemordet hatte?
Wenn ja, dann würden Riley und Crivaro dem ein für alle Mal ein Ende setzen müssen.
Kapitel sechs
Als sich der Laster dem Ort Tunsboro näherte, bemerkte Riley, dass Jillian wieder unruhig wurde.
Und vielleicht aus gutem Grund, dachte Riley.
Die beiden Männer in den Vordersitzen sprachen nicht mehr über Autoreisen und ähnliche Belanglosigkeiten. Harry hatte seinen beständigen Fluss an gehaltlosem Gerede abgeschaltet und kehrte wieder zum Thema, welches ihn am meisten in Gedanken quälte, zurück.
»Wisst ihr was, so langsam fange ich an mir eine Theorie zu diesen zwei Morden zusammenzureimen«, sagte er. »Wollt ihr sie hören?«
Riley und Jillian atmeten laut aus. Sie wusste, dass die Frau sich sorgte, ob ihr Mann sein Wort nicht halten würde und doch im letzten Augenblick sich in den Fall einmischen würde.
Mit gereiztem Gesichtsausdruck murrte Crivaro unhörbar.
Riley kam es deutlich vor, als wäre seine Antwort ein »Nein«. Aber Harry war offensichtlich dazu entschlossen, trotzdem über seine Theorie zu sprechen.
»Ich denke – nein, ich bin mir fast sicher – dass der Mörder ein Camper ist, jemand der von Campingplatz zu Campingplatz zieht.«
»Jemand wie du?«, fragte Crivaro ironisch.
Harry schmunzelte und sagte: »Genau, jemand wie ich, jedoch ohne die in der Jagd nach solchem Abschaum verbrachten Jahre. Aber, wie dem auch sei, teilweise hast du recht. Der Mörder muss jemand sein, der sich gut in die ganze Camper-Szene einfügt. Auf Campingplätzen belauerte er sicherlich seine Opfer.«
Crivaro schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht, Harry…«
Harry ignorierte ihn und schwatzte weiter über seine Theorie. Riley fühlte sich, als ob sie Crivaros Skeptizismus verstehen konnte. Selbst wenn Harry recht hatte und die zwei Fälle in Verbindung standen, bedeutete dies immer noch nicht, dass der Mörder irgendjemanden »belauert« hatte. Sie wusste, dass manche Morde aus impulsiver Handlung bei Zufallsbegegnungen geschahen. Außerdem- reisen die meisten Camper nicht in Gruppen, oder zumindest zu zweit? Die Vorstellung eines psychotischen Campers, der sich auf den Campingplätzen der Vereinigten Staaten herumtreibt, erschien ein wenig weit hergeholt.
Endlich sagte Harry: »Also, Jake, ich will dir nicht erzählen, wie du deine Arbeit zu machen hast, aber…«
Riley konnte erkennen, wie Crivaro bei diesen Worten zusammenzuckte. Wieder murrte er: »Eigentlich ist es nicht meine Arbeit.«
Jedoch bremste diese Bemerkung Harry keinesfalls. Er fuhr fort: »Ich denke du und deine Partnerin solltet die Campingplätze besichtigen und die Leute dort ausfragen. Früher oder später werdet ihr sicherlich auf einen Hinweis stoßen.«
Crivaro rollte mit den Augen und Riley konnte nicht anders, als Mitleid mit ihm zu haben.
Ohne Crivaros Bestürzung wahrzunehmen, fuhr Harry mit seiner Rede fort.
»Allerdings, du und deine Partnerin könnt nicht einfach in einen Campingplatz einmarschieren, so wie ihr gerade gekleidet seid. Verdammt, es steht euch ‘FBI’ gänzlich ins Gesicht geschrieben. Ich kenne Camper. Die meisten sind ausgesprochen freundliche Menschen und sie werden mit euch reden, egal wer ihr seid. Aber es gibt auch eine andere Sorte von Leuten. Manch von ihnen sind mehr – wie heißt das Wort?«
»Zurückhaltender«, murrte Jillian. »Manche sind einfach schüchtern.«
»Ja genau, schüchtern«, sagte Harry. »Manch mögen es lieber unter sich zu bleiben. Und sollte einer dieser schüchternen Sorte etwas wissen, er würde sich aus dem Staub machen, sobald er euch erblickt. Ich schätze, was ich sagen will ist, ihr zwei müsst verdeckt ermitteln. Gebt euch einfach als Camper aus. Du kannst einfach sagen, dass du der Onkel des Mädchens bist, oder etwas Ähnliches. Sicherlich weißt du, wie du es anzustellen hast, aber hier wird es wahrscheinlich schwieriger sein als üblich. Zuallererst braucht ihr neue Sachen zum Anziehen. Kleidet euch ähnlich wie ich und Jillian. Und ihr braucht auch euren eigenen Anhänger oder ein Wohnmobil…«
In diesem Augenblick unterbrach ihn Crivaro laut: »Harry, ich werde mir nicht ein Wohnmobil kaufen gehen.«
»Ja, ich weiß, aber du könntest eins mieten«, gab ihm Harry Bescheid. »Es muss hier irgendwo einen Verleih geben. Passe nur auf, dass es halbwegs vernünftig aussieht und kein Schrotthaufen ist. Einige der besseren Campingplätze lassen dich nicht einmal mit einem älteren oder ausgeleierten Wohnmobil rein. Ich bin mir sicher, dass der Polizeichef in Tunsboro dir einen Platz empfehlen kann, wo du findest, was du brauchst.«
Riley konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Die Idee mit Crivaro kampieren zu gehen und sich als seine Nichte auszugeben erschien ihr lächerlich.
Wir würden niemanden damit hereinlegen, dachte sie.
Ihr wurde bewusst, dass Harrys pausenlose Beratung nur zeigte, wie sehr es ihm an diesem Fall lag. Jillians grimmiges Schweigen sagte ihr auch, dass sich Harrys Frau seines Geisteszustandes bewusst war.
Während Harry unablässig weiter plapperte, wie Riley und Crivaro die Untersuchung des Falles angehen sollte, fuhr sie an Golfplätzen und Ferienanlagen im Außenbezirk von Tunsboro vorbei.
Als sie in Tunsboro angelangt waren, erschien es Riley, als befänden sie sich in einem alten Westernstädtchen, das jemand erfolglos versucht hatte für die Neuzeit umzukleiden. Gebäude mit quadratischen Fassaden zierten die Hauptstraße. Eine Reihe klappriger mit Blech überzogener und von dicken Holzstützen in der Luft gehaltener Vordächer streckte sich die Straße entlang. Trotz frisch aufgetragener Farbe hier und da, erschien keines der Gebäude bereit für das bevorstehende einundzwanzigste Jahrhundert.
Tatsächlich waren es die Fußwege aus Beton, die gepflasterten Straßen, die Ampelanlagen und besonders die Autos, die merkwürdigerweise fehl am Platz erschienen.
Harry parkte vor der Polizeiwache, die ebenfalls eine altmodische Fassade besaß.
Er drehte sich zu Riley und Crivaro.
»Ich vermute nicht, dass euch Polizeichef Webster erwartet. Ich habe nichts über meine Kontaktaufnahme zur Verhaltensanalyseeinheit des FBI erwähnt. Zumindest kennt er mich vom gestrigen Telefongespräche. Vielleicht sollte ich mit euch kommen und euch —«
Jillian unterbrach ihn schroff: »Denk nicht mal daran, Harry!«
Harry sah seine Frau mit einem flehenden Gesichtsausdruck an.
»Es dauert nur eine Minute, Liebstes«, sagte er.
»Es dauert nicht nur eine Minute. Und du weißt es auch. Wir verabschieden uns jetzt von deinen Freunden und machen uns schnurstracks auf den Weg zurück zu unserem Wohnanhänger. Dann brechen wir nach Coronado Forest auf. Damit ist die Sache gegessen.«
»Aber, Liebste —«
»Nichts ‘aber’, Harry. Wenn du mit in die Polizeiwache gehst, dann setze ich mich in den Fahrersitz und mache mich ohne dich auf den Weg.«
Harry seufzte und zwang sich ein Lächeln auf.
Er sagte zu Crivaro und Riley: »Also, die Dame hat gesprochen. Wie schon gesagt, eine straffe Leine. Wir machen uns jetzt auf den Weg. Geht auf die Jagd, ihr zwei. Und noch einmal, vielen Dank, dass ihr euch der Sache angenommen habt.«
Als Riley und Crivaro aus dem Laster stiegen, hörten sie Harry murmeln: »Mir würde es nichts ausmachen, wenn ihr mich am Laufenden halten würdet.«
»Tut’s nicht!«, erwiderte Jillian schroff.
Riley und Crivaro standen da und schauten Harry und seiner Ehefrau nach, wie sie davonfuhren.
Es erschien Riley sehr fremdartig sich hier zu befinden, plötzlich gestrandet inmitten dieser kleinen Stadt.
Crivaro erging es offensichtlich ebenso. Er schaute auf den Boden, trat von einem Bein auf das andere und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch irrsinnig«, sagte er. »Wir hätten uns in diese Sache nicht einmischen sollen.«
Riley lachte und sagte: »Also, meine Idee war es nicht.«
Dann bemerkte sie, wie eine Möglichkeit in ihren Gedanken Gestalt annahm.
»Abgesehen davon«, fügte sie hinzu: »dass, soweit wir wissen, Harry zu allem recht haben könnte.«
Crivaro blickte sie an und knurrte: »Also, dass wir beide zusammen campen gehen, damit hat er nicht recht. Das wäre dann doch zu lächerlich. Irgendwo muss die Grenze gezogen werden.«
»Da stimme ich mit dir überein«, sagte Riley.
Crivaro drehte sich und ging auf das Gebäude zu.
»Komm schon! Wir wollen uns beim Polizeichef vorstellen«, sagte er.
Sie betraten die kleine Polizeiwache, wo sie ein Rezeptionist zum Büro des Polizeichefs Everett Webster weiterleitete. Er saß an der Ecke seines Schreibtisches und redete mit einem Polizisten als sie hereinkamen. Das Gespräch schien ernst.
Riley war sich sicher, dass sie über den jüngsten Mordfall sprachen.
Als Riley und Crivaro ihre Rucksäcke zum Vorschein brachten und sich vorstellten, klappte Webster der Unterkiefer herunter.
»Ach du meine Güte«, gab er von sich. »Was in Gottes Namen habt ihr FBI-Leute hier zu suchen?«
Crivaro sagte: »Uns wurde mitgeteilt, dass der Leichnam einer ermordeten Frau auf einem Wanderpfad unweit von hier gefunden wurde.«
Webster sagte: »Ja, aber niemand hat zu diesem Fall das FBI hierher bestellt. Es handelt sich um einen örtlichen Vorfall und wir haben die Sache im Griff.«
Dann blinzelte er Riley und Crivaro an und sagte: »Augenblick! Ihr seid doch nicht etwa aufgrund des durchgeknallten Kerls aus Colorado hier, oder? Des Kerls der anrief, um mich zu überzeugen, dass ein Zusammenhang zwischen diesem Mordfall und einen anderen Mordfall von vor einem Jahr besteht.«
Crivaro zuckte mit den Schultern: »Wir sind nur hier um uns einen Einblick zu verschaffen.«
Webster schüttelte seinen Kopf und sagte zum anderen Polizisten: »Wally, kannst du uns bitte ein paar Minuten alleine lassen?«
Wally nickte und verließ das Büro.
Webster ging ein paar Schritte vor seinem Schreibtisch hin und her. Mit seinem gewaltigen vorspringenden Kinn und einer fliehenden Stirn, die ihn wie eine Art Höhlenmensch erscheinen ließen, fiel er Riley als ziemlich unansehnlicher Mann auf. Aber seine Augen ließen auf einen wachen und recht intelligenten Geist schließen.
Er sagte zu Riley und Crivaro: »Schaut, ich weiß nicht wie es dem Kerl gelungen ist das FBI dazu zu überreden euch zwei hierher zu schicken, aber ihr vergeudet hier wirklich nur eure Zeit. Es tut mir leid, dass ihr euch die Mühe machen musstet. Ich und meine Jungs haben die Sache voll im Griff.«
»Das bezweifeln wir auch nicht«, sagte Crivaro in einem angenehmen Ton. »Dennoch, da wir ja schon hier sind, würden wir uns gerne alles anhören, was Sie uns zu diesem Mordfall sagen können. Wir sind Teil der Verhaltensanalyseeinheit und es hört sich an, als handele es sich hier um einen recht ungewöhnlichen Mörder. Wir dachten uns nur, dass wir Ihnen hier womöglich behilflich sein könnten.«
Webster zuckte mit den Schultern und sagte: »Verhaltensanalyseeinheit? Nun ja, es ist wirklich ein sonderbarer Fall, das muss ich schon zugeben. Brett Parma war der Name des Opfers. Gerade eben führte ich ein Telefongespräch, wo ich versuchte mehr über sie zu erfahren.«
Webster hob ein paar Notizen, die auf seinem Schreibtisch lagen, auf und warf durch seine Lesebrille einen Blick auf sie.
Er sagte: »Es sieht so aus, als hätte sie als Empfangsdame in einer Arztpraxis oben in North Platte, Nebraska gearbeitet. Sie kam hierher im Rahmen eines dreiwöchigen Urlaubs. Sie blieb für ein paar Tage auf dem Wren’s Nest Campingplatz unweit von hier und meldete sich am Samstag dort ab. Danach hat sie niemand mehr gesehen – zumindest bis der Wanderer auf dem Wanderpfad gestern Abend auf ihre Leiche stieß. Angeblich hatte sie eine Reservation beim Beavertail Campingplatz, also nicht weit weg von hier. Aber sie kam nie dort an.«