Marias Vater, David Barren, war der Direktor der nationalen Nachrichtendienste, im Grunde genommen der einzige Mann, abgesehen vom Präsidenten, dem der CIA Direktor Shaw Rechenschaft schuldig war.
Doch Maria schüttelte ihren Kopf. “Mein Vater wird in der Schweiz sein. Er ist Teil eines diplomatischen Attachés im Auftrag des Präsidenten.”
Alan runzelte seine Stirn. “Dann wirst du an Thanksgiving allein sein?”
Maria zuckte mit den Schultern. “Das ist nicht weiter schlimm. Ich liege ein bisschen mit dem Papierkram hinten dran, weil ich so viel Zeit mit euch beiden Idioten hier verbracht habe. Ich werde mir ein paar Jogginghosen anziehen, einen Tee machen und mich darauf konzentrieren…”
“Nein”, unterbrach Null sie streng. “Auf keinen Fall. Komm und iss mit mir und den Mädchen.” Er sagte es, ohne es zuvor richtig zu durchdenken, doch er bedauerte das Angebot nicht. Wenn überhaupt, dann spürte er ein wenig Schuld, denn sie war ja nur wegen ihm allein an Thanksgiving.
Maria lächelte dankbar, doch ihre Augen blickten zweifelhaft. “Ich bin mir nicht so sicher, dass das eine gute Idee ist.”
Sie hatte damit nicht ganz unrecht, denn ihre Beziehung endete kaum mehr als einen Monat zuvor. Sie hatten zuvor für mehr als ein Jahr zusammengelebt als… naja, er war sich nicht sicher, was sie waren. Verliebt? Er konnte sich nicht daran erinnern, sie auch nur seine Freundin genannt zu haben. Es klang einfach zu seltsam. Doch letztendlich war es egal, denn Maria hatte zugegeben, dass sie eine Familie wollte.
Falls Null das noch einmal täte, dann gäbe es niemanden in der Welt, mit dem er es lieber als mit Maria täte. Doch als er sich wirklich tief innerlich die Frage stellte, merkte er, dass er das nicht wollte. Er hatte selbst Arbeit zu tun, er musste die Beziehungen zu seinen Töchtern wieder herstellen, die Dämonen aus seiner Vergangenheit verbannen. Und dann war die Dolmetscherin, Karina, in einer allzu kurzen Liebesgeschichte in sein Leben getreten. Es war schwindelerregend und gefährlich und wundervoll und tragisch. Sein Herz schmerzte immer noch von dem Verlust.
Trotz allem hatten Maria und er eine sagenumwobene Vergangenheit, nicht nur romantisch, sondern auch professionell und platonisch. Sie hatten verabredet, befreundet zu bleiben. Keiner der beiden wollte es anders. Doch jetzt, wo er wieder ein Agent war, wurde Maria zur Deputy Direktorin der Spezialeinsätze befördert – was bedeutete, dass sie seine Chefin war.
Es war kompliziert, um es gelinde auszudrücken.
Null schüttelte seinen Kopf. Es musste nicht kompliziert sein. Er musste daran glauben, dass zwei Menschen Freunde sein konnten, ganz gleich der Vergangenheit oder ihrer gegenwärtigen Verbindungen.
“Es ist eine tolle Idee”, sagte er ihr. “Ich lasse kein nein zu. Iss mit uns.”
“Nun…” Marias Blick sprang von Null auf Reidigger und wieder zurück. “In Ordnung”, gab sie nach. “Es klingt gut. Ich sollte mich schätzungsweise besser jetzt schon um den Papierkram kümmern.”
“Ich schreibe dir eine SMS”, versprach Null, während sie mit laut klackenden Absätzen auf dem Beton die Fabrikhalle verließ.
Alan zog seine eigene schusssichere Weste mit einem langen Knurren aus und zog sich dann wieder die schweißbefleckte Fernfahrermütze über sein zerzaustes Haar, bevor er gelassen fragte: “Ist das ein Trick?”
“Ein Trick?” schnaubte Null. “Wozu? Um Maria zurückzubekommen? Du weißt, dass ich nicht darüber nachdenke.”
“Nein. Ich meine ein Trick, damit Maria als Prellbock zwischen ihnen und dir steht.” Für einen Geheimagenten, der die letzten vier Jahre unter einer anderen Identität gelebt hatte, war Alan so brutal aufrichtig, dass es manchmal schon fast beleidigend schien.
“Natürlich nicht”, erwiderte Null fest. “Du weißt, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass die Dinge wieder so werden, wie sie mal waren. Maria ist eine Freundin. Kein Prellbock.”
“Na klar”, stimmte Alan zu, doch er klang zweifelnd. “Vielleicht war,Prellbock’ einfach nicht das richtige Wort. Vielleicht mehr wie ein…” Er blickte auf die schusssichere Weste, die auf dem Stahlwagen vor ihm lag und zeigte dann darauf. “Na, ich kann gerade an keine bessere Metapher denken.”
“Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst”, beharrte Null und versuchte, nicht die Hitze in seiner Stimme zu zeigen. Er war nicht verärgert darüber, dass Alan ehrlich war, doch er fand die Andeutung irritierend. “Maria hat es nicht verdient, an Thanksgiving allein zu sein und die Dinge mit den Mädchen sind viel besser, seit sie seit mehr als einem Jahr waren. Alles läuft gut.”
Alan hob beide Hände geschlagen hoch. “OK, ich glaube dir. Ich passe nur auf dich auf, das ist alles.”
“Ja, ich weiß.” Null schaute auf seine Uhr. “Ich muss los. Maya kommt heute an. Gehen wir am Freitag ins Fitnessstudio?”
“Ganz bestimmt. Grüß die Mädchen von mir.”
“Mache ich. Genieße dein Hühnchen und den Motor.” Null winkte, als er sich auf die Tür zubewegte, doch jetzt überschwemmten Zweifel seine Gedanken. Hatte Alan recht? Hatte er unbewusst Maria eingeladen, weil er Angst hatte, allein mit den Mädchen zu sein? Was, wenn ihr Zusammentreffen sie erneut daran erinnerte, warum sie überhaupt gegangen waren? Oder noch schlimmer, was, wenn sie dasselbe wie Alan dachten, dass Maria als eine Art Schutzbarriere zwischen ihm und ihnen diente? Was, wenn sie dachten, dass er es nicht ernsthaft versuchte?
Alles läuft gut.
Das war zwar überhaupt kein Trost, doch zumindest war seine Fähigkeit, zu lügen so überzeugend wie eh und je.
Kapitel zwei
Maya schlurfte die Treppen zu der Wohnung im zweiten Stock hinauf, die ihr Vater mietete. Es war in einem neu entwickelten Gebiet außerhalb der Stadtmitte von Bethesda, in einer Nachbarschaft, die während der letzten Jahre mit Apartments, Stadthäusern und Einkaufszentren aufgebaut wurde. Kaum die Art von Ort, von dem sie vermutet hätte, dass ihr Vater dort lebte, doch sie verstand, dass er es eilig hatte, etwas Verfügbares zu finden, nachdem seine Beziehung mit Maria beendet war.
Wahrscheinlich, bevor er es sich anders überlegen konnte, stellte sie sich vor.
Für den kürzesten Moment trauerte sie um den Verlust ihres Zuhause in Alexandria, das Haus, in dem sie, Sara und ihr Vater zusammenlebten, bevor der ganze Wahnsinn begann. Damals, als sie noch glaubten, dass ihr Vater ein Geschichtsprofessor war, bevor sie herausfanden, dass er ein Geheimagent bei der CIA war. Bevor sie von einem psychopathischen Attentäter entführt wurden, der sie an Menschenhändler verkaufte. Damals, als sie glaubten, dass ihre Mutter an einem plötzlichen Schlaganfall verstorben war, während sie nach einem Arbeitstag auf ihr Auto zuging, wobei sie wirklich von einem Mann ermordet wurde, der die Leben der Mädchen mehr als einmal gerettet hatte.
Maya schüttelte ihren Kopf und strich sich den Pony aus der Stirn, als sie versuchte, die Gedanken zu verdrängen. Es war Zeit für einen Neubeginn. Oder zumindest musste sie das ernsthaft versuchen.
Sie fand die Tür zur Wohnung ihres Vaters, bevor sie bemerkte, dass sie keinen Schlüssel hatte und vielleicht zuerst hätte anrufen sollen, um sich zu versichern, dass er zu Hause war. Doch nachdem sie zwei Mal kurz angeklopft hatte, wurde der Sicherheitsriegel zur Seite geschoben und die Tür öffnete sich. Maya starrte für mehrere verblüffte Sekunden in das Gesicht einer relativ Fremden.
Sie hatte Sara länger nicht gesehen, als sie es zugeben wollte und das konnte man dem Gesicht ihrer jüngeren Schwester leicht ansehen. Sara wurde schnell zu einer jungen Frau, ihre Gesichtszüge definierter – oder vielmehr wurden sie zu denen von Katherine Lawson, ihrer verstorbenen Mutter.
Das wird schwieriger, als ich dachte. Während Maya mehr ihrem Vater ähnlich sah, erbte Sara schon immer Aspekte ihrer Mutter, sowohl in ihrer Persönlichkeit, als auch in ihren Interessen und ihrem Aussehen. Ihre junge Schwester war auch bleicher als Maya sich erinnerte, doch Maya war sich nicht sicher, ob das nur eine falsche Erinnerung war oder mit dem Entzug zusammenhing. Ihre Augen schienen irgendwie glanzloser und die dunklen Ringe, die Sara versucht hatte, mit Makeup zu verdecken, waren offensichtlich. Sie hatte ihr Haar irgendwann rot gefärbt, mindestens zwei Monate zuvor und jetzt kamen an den Wurzeln die ersten paar Zentimeter ihres natürlich blonden Tons heraus. Sie hatte es auch kürzlich auf Kinnlänge schneiden lassen, sodass es ihr Gesicht zwar hübsch umrahmte, doch sie ein paar Jahre älter aussehen ließ. So sehr, dass man annehmen könnte, sie und Maya wären gleichaltrig.
“Hallo”, sagte Sara einfach.
“Hi.” Maya schüttelte die anfängliche Überraschung über ihre dramatisch veränderte Schwester ab und lächelte. Sie stellte ihren grünen Seesack ab und tat einen Schritt voran, um ihre Schwester zu umarmen. Sara schien sie dankbar zu empfangen, als ob sie abgewartet hätte, um herauszufinden, wie ihre ältere Schwester sie begrüßen würde. “Ich habe dich vermisst. Ich wollte gleich nach Hause kommen, als Papa mir erzählt hat, was geschehen ist…”
“Ich bin froh, dass du das nicht getan hast”, antwortete Sara offen. “Ich hätte mich fürchterlich gefühlt, wenn du die Akademie wegen mir verlassen hättest. Außerdem wollte ich nicht, dass du mich siehst… nicht so.”
Sara schlüpfte aus der Umarmung ihrer Schwester und griff den Seesack auf, bevor Maya protestieren konnte. “Komm rein”, winkte sie ihr zu. “Willkommen Zuhause, würde ich sagen.”
Willkommen Zuhause. Komisch, dass es sich so wenig wie Zuhause anfühlte. Maya folgte ihr in die Wohnung. Es war ein ganz hübscher Ort, modern, mit viel natürlichem Licht, doch recht nüchtern. Hätte nicht etwas Geschirr in der Spüle gelegen und der Fernseher im Wohnzimmer leise gebrummt, so könnte sich Maya nicht vorstellen, dass jemand tatsächlich hier lebte. Es gab keine Bilder an den Wänden, keine Dekoration, die auf irgendeine Art von Persönlichkeit hingewiesen hätte.
Fast wie ein weißes Blatt. Doch sie musste zugeben, dass ein weißes Blatt passend für ihre Situation war.
“Das ist es also”, kündigte Sara an, als ob sie Mayas Gedanken läse. “Zumindest für den Moment. Es gibt nur zwei Schlafzimmer, also müssen wir eines teilen…”
“Ich schlafe gerne auf der Couch”, bot Maya an.
Sara lächelte leicht. “Es macht mir nichts aus, zu teilen. Es wird so wie damals, als wir klein waren. Es wäre… schön. Dich in der Nähe zu haben.” Sie räusperte sich. Obwohl sie so oft am Telefon sprachen, war es dennoch ganz offensichtlich komisch, wieder im selben Raum zu sein.
“Wo ist Papa?” fragte Maya plötzlich und vielleicht zu laut, um die Spannung zu lösen.
“Der sollte gleich ankommen. Er wollte nach der Arbeit noch ein paar Sachen für morgen einkaufen.”
Nach der Arbeit. Sie sagte es so gelassen, als ob er nach getaner Arbeit ein Büro anstatt der CIA Hauptquartiere in Langley verließe.
Sara setzte sich an der Theke, welche die Küche und das kleine Esszimmer voneinander trennte, auf einen Barhocker. “Was macht die Akademie?”
Maya lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Theke. “Die Akademie ist…” Sie hielt inne. Obwohl sie erst achtzehn war, besuchte sie gerade ihr zweites Jahr in West Point in New York. Sie hatte das letzte Jahr der High School übersprungen und wurde an der Militärakademie aufgrund eines Briefes des ehemaligen Präsidenten Eli Pierson angenommen. Agent Null hatte ein Attentat auf ihn vereitelt. Jetzt war sie Klassenbeste, vielleicht sogar die Beste der ganzen Akademie. Doch ein kürzlicher Streit mit ihrem Ex-Freund Greg Calloway hatte zu Schikanen und etwas Mobbing geführt. Maya weigerte sich, es an sie heranzulassen, doch sie musste zugeben, dass es ihr in letzter Zeit das Leben erschwert hatte. Greg hatte viele Freunde und es waren alles ältere Jungs an der Akademie, denen Maya es mindestens ein oder zwei Mal bewiesen hatte.
“Die Akademie ist toll”, sagte sie letztendlich und erzwang ein Lächeln. Sara hatte schon genügend eigene Probleme. “Aber irgendwie langweilig. Ich will wissen, wie es mit dir steht.”
Sara prustete fast und streckte dann ihre Hände zur Seite heraus, um in einer großen Geste auf die Wohnung zu zeigen. “Du schaust es dir an. Ich bin verbringe jeden Tag ganz hier. Ich schaue Fernsehen. Ich gehe nirgendwo hin. Ich habe kein Geld. Papa hat mir ein Handy auf seinem Plan gekauft, damit er meine Anrufe und SMS überwachen kann.” Sie zuckte mit einer Schulter. “Es ist wie eines dieser vornehmen Gefängnisse, in das sie Politiker und Berühmtheiten stecken.”
Maya lächelte traurig über den Witz und fragte dann vorsichtig: “Aber du bist… sauber?”
Sara nickte. “Soweit wie möglich.”
Maya zog die Stirn in Falten. Sie wusste über viel Bescheid, doch Drogenkonsum gehörte nicht dazu. “Was bedeutet das?”
Sara starrte die Granittheke an, zog mit ihrem Zeigefinger kleine Kreise über die glatte Fläche. “Das bedeutet, dass es schwer ist”, gab sie leise zu. “Ich dachte, dass es nach den ersten paar Tagen leichter würde, nachdem der ganze Stoff aus meinem Körper war. Doch das wurde es nicht. Es ist… es ist, als ob mein Gehirn sich immer noch an das Gefühl erinnert, es immer noch vermisst. Die Langeweile hilft nicht. Aber Papa will noch nicht, dass ich mir einen Job suche. Er will nicht, dass ich Geld habe, bis es mir besser geht.” Sie schnaubte verächtlich und fügte hinzu: “Er will, dass ich für die High School Prüfungen lerne.”
Das solltest du auch, stieß Maya fast hervor, doch hielt sich im Zaum. Sara hatte die High School abgebrochen, nachdem ihr die Emanzipierung zugesprochen wurde, doch das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine Standpauke, besonders, wenn sie sich ihr so öffnete.
Doch Eines war ganz klar: Saras Problem war schlimmer, als Maya bemerkt hatte. Sie dachte, dass ihre jüngere Schwester nur ein wenig experimentiert hatte, und dass die Beinahe-Überdosis an Pillen nur ein Unfall war. Doch das Gegenteil war der Fall. Sara war eine genesende Süchtige. Und es gab nichts, was Maya tun konnte, um ihr zu helfen. Sie wusste nichts über Abhängigkeiten.
Doch stimmt das wirklich?
Sie erinnerte sich plötzlich an eine Nacht, etwa zwei Wochen zuvor, als sie ihre Zimmerpartnerin geweckt hatte, weil sie um ein Uhr nachts aus dem Fitnessstudio kam. Die verärgerte Kadettin hatte ihr halb schlafend etwas zugemurmelt, das wie,Fitness Junkie’ klang. Und dann war Maya noch eine weitere Stunde wachgeblieben, um zu lernen, nur damit sie um sechs Uhr morgens joggen gehen konnte.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr wurde sie sich bewusst, dass sie sehr wohl über Abhängigkeit Bescheid wusste. War sie nicht davon abhängig, sich zu beweisen? Hatte sie nicht ihren Rausch in ihrem eigenen Erfolg gefunden?
Und ihr Vater war trotz des ganzen Tumults der letzten zwei Jahre wieder zu seinem Beruf zurückgekehrt. Sara vermisste den chemischen Rausch, sowie Maya Erfolg brauchte und ihr Vater den Nervenkitzel der Jagd suchte – vielleicht waren sie einfach nur eine Familie voller Abhängiger.
Aber Sara ist die Einzige, die es zugegeben hat. Vielleicht ist sie die Klügste von uns allen.
“Hey.” Maya lehnte sich zu ihr herüber und legte ihre Hand auf Saras. “Du kannst das schaffen. Du bist stärker, als du glaubst. Und ich glaube an dich.”
Sara lächelte halb. “Da bin ich aber froh, dass einer das tut.”